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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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sich - nicht anders als, grundsätzlich zu reden, jeder pst_133.002
einzelne epische Vers. Höchst bezeichnend ist der Anlaß, pst_133.003
der die Helden nach Troia führt. Der Sohn des troianischen pst_133.004
Königs hat Menelaos seine Gattin geraubt. Der pst_133.005
freche Frevel soll gesühnt und Helena wieder heimgeholt pst_133.006
werden. Doch niemand wird glauben, dies sei der pst_133.007
Grund, warum ein Achill, ein Aias mitzieht. Sie ziehen pst_133.008
mit, weil es die Ehre gebietet und weil sie die Lust des pst_133.009
Kampfes lockt. Agamemnon und Menelaos bekommen pst_133.010
es oft genug zu hören, daß ihre persönliche Familiensorge pst_133.011
den anderen im Grunde gleichgültig sei. Wir pst_133.012
sehen, das Verhältnis entspricht dem zwischen den Episoden pst_133.013
und dem Gesamtplan der "Ilias" und der "Odyssee". pst_133.014
Wie der Gesamtplan dazu da ist, den Episoden pst_133.015
Raum zu gewähren, so ist die Kriegsursache da, damit pst_133.016
sich der Einzelne zeigen kann. Nichts liegt den homerischen pst_133.017
Helden ferner als ein ideologischer Krieg. Jede pst_133.018
Beziehung des einzelnen Kämpfers auf eine festgelegte pst_133.019
Verpflichtung, jede moralische oder politische Rücksicht pst_133.020
fehlt. Das heißt nicht, daß ein homerischer Held pst_133.021
nicht auch Gutes vollbringen könne. Selbst dann aber pst_133.022
handelt er nicht aus Rücksicht auf irgendein ewiges Sittengesetz, pst_133.023
sondern weil er jetzt gut handeln will. Es ist pst_133.024
nicht das Gute, sondern sein Gutes, Milde Achills und pst_133.025
Tapferkeit Hektors, nicht Milde und Tapferkeit an sich, pst_133.026
an der ein Einzelner im platonischen Sinne "teilhaben" pst_133.027
müßte. Der sittliche Zweck bleibt eins mit eines jeden pst_133.028
persönlichem Temperament.

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In einer solchen Welt sieht der Dichter den Menschen pst_133.030
anders als wir ihn sehen. Wir Neueren treten an jede Gestalt pst_133.031
mit einem Vor-urteil heran. Das Vorurteil besteht

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sich – nicht anders als, grundsätzlich zu reden, jeder pst_133.002
einzelne epische Vers. Höchst bezeichnend ist der Anlaß, pst_133.003
der die Helden nach Troia führt. Der Sohn des troianischen pst_133.004
Königs hat Menelaos seine Gattin geraubt. Der pst_133.005
freche Frevel soll gesühnt und Helena wieder heimgeholt pst_133.006
werden. Doch niemand wird glauben, dies sei der pst_133.007
Grund, warum ein Achill, ein Aias mitzieht. Sie ziehen pst_133.008
mit, weil es die Ehre gebietet und weil sie die Lust des pst_133.009
Kampfes lockt. Agamemnon und Menelaos bekommen pst_133.010
es oft genug zu hören, daß ihre persönliche Familiensorge pst_133.011
den anderen im Grunde gleichgültig sei. Wir pst_133.012
sehen, das Verhältnis entspricht dem zwischen den Episoden pst_133.013
und dem Gesamtplan der «Ilias» und der «Odyssee». pst_133.014
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Raum zu gewähren, so ist die Kriegsursache da, damit pst_133.016
sich der Einzelne zeigen kann. Nichts liegt den homerischen pst_133.017
Helden ferner als ein ideologischer Krieg. Jede pst_133.018
Beziehung des einzelnen Kämpfers auf eine festgelegte pst_133.019
Verpflichtung, jede moralische oder politische Rücksicht pst_133.020
fehlt. Das heißt nicht, daß ein homerischer Held pst_133.021
nicht auch Gutes vollbringen könne. Selbst dann aber pst_133.022
handelt er nicht aus Rücksicht auf irgendein ewiges Sittengesetz, pst_133.023
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nicht das Gute, sondern sein Gutes, Milde Achills und pst_133.025
Tapferkeit Hektors, nicht Milde und Tapferkeit an sich, pst_133.026
an der ein Einzelner im platonischen Sinne «teilhaben» pst_133.027
müßte. Der sittliche Zweck bleibt eins mit eines jeden pst_133.028
persönlichem Temperament.

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anders als wir ihn sehen. Wir Neueren treten an jede Gestalt pst_133.031
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[133/0137] pst_133.001 sich – nicht anders als, grundsätzlich zu reden, jeder pst_133.002 einzelne epische Vers. Höchst bezeichnend ist der Anlaß, pst_133.003 der die Helden nach Troia führt. Der Sohn des troianischen pst_133.004 Königs hat Menelaos seine Gattin geraubt. Der pst_133.005 freche Frevel soll gesühnt und Helena wieder heimgeholt pst_133.006 werden. Doch niemand wird glauben, dies sei der pst_133.007 Grund, warum ein Achill, ein Aias mitzieht. Sie ziehen pst_133.008 mit, weil es die Ehre gebietet und weil sie die Lust des pst_133.009 Kampfes lockt. Agamemnon und Menelaos bekommen pst_133.010 es oft genug zu hören, daß ihre persönliche Familiensorge pst_133.011 den anderen im Grunde gleichgültig sei. Wir pst_133.012 sehen, das Verhältnis entspricht dem zwischen den Episoden pst_133.013 und dem Gesamtplan der «Ilias» und der «Odyssee». pst_133.014 Wie der Gesamtplan dazu da ist, den Episoden pst_133.015 Raum zu gewähren, so ist die Kriegsursache da, damit pst_133.016 sich der Einzelne zeigen kann. Nichts liegt den homerischen pst_133.017 Helden ferner als ein ideologischer Krieg. Jede pst_133.018 Beziehung des einzelnen Kämpfers auf eine festgelegte pst_133.019 Verpflichtung, jede moralische oder politische Rücksicht pst_133.020 fehlt. Das heißt nicht, daß ein homerischer Held pst_133.021 nicht auch Gutes vollbringen könne. Selbst dann aber pst_133.022 handelt er nicht aus Rücksicht auf irgendein ewiges Sittengesetz, pst_133.023 sondern weil er jetzt gut handeln will. Es ist pst_133.024 nicht das Gute, sondern sein Gutes, Milde Achills und pst_133.025 Tapferkeit Hektors, nicht Milde und Tapferkeit an sich, pst_133.026 an der ein Einzelner im platonischen Sinne «teilhaben» pst_133.027 müßte. Der sittliche Zweck bleibt eins mit eines jeden pst_133.028 persönlichem Temperament. pst_133.029   In einer solchen Welt sieht der Dichter den Menschen pst_133.030 anders als wir ihn sehen. Wir Neueren treten an jede Gestalt pst_133.031 mit einem Vor-urteil heran. Das Vorurteil besteht

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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/137>, abgerufen am 22.11.2024.