Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_127.001 Das wahrhaft epische Kompositionsprinzip ist die einfache pst_127.010 pst_127.001 Das wahrhaft epische Kompositionsprinzip ist die einfache pst_127.010 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0131" n="127"/><lb n="pst_127.001"/> Taten, Vorgängen, die im Hinblick aufs Ganze <lb n="pst_127.002"/> entbehrlich sind und im Sinne strenger Komposition <lb n="pst_127.003"/> als Fehler bezeichnet werden müßten. Wer drum sein <lb n="pst_127.004"/> Augenmerk vor allem auf eine große Linie richtet und <lb n="pst_127.005"/> zwischen weit voneinander entfernten Szenen Fäden zu <lb n="pst_127.006"/> ziehen beginnt, der blickt am Schwerpunkt der poetischen <lb n="pst_127.007"/> Tätigkeit Homers vorbei und gibt zu verstehen, <lb n="pst_127.008"/> daß ihm die Einfalt epischer Dichtung nicht genügt.</p> <lb n="pst_127.009"/> <p> Das wahrhaft epische Kompositionsprinzip ist die einfache <lb n="pst_127.010"/> Addition. Im Kleinen wie im Großen werden <lb n="pst_127.011"/> selbständige Teile zusammengesetzt. Die Addition geht <lb n="pst_127.012"/> immer weiter. Ein Ende wäre nur zu finden, wenn es <lb n="pst_127.013"/> gelänge, den gesamten orbis terrarum abzuschreiten <lb n="pst_127.014"/> und schlechthin alles, was irgendwo ist oder war, zu vergegenwärtigen. <lb n="pst_127.015"/> Der Langeweile, die dabei droht (die <lb n="pst_127.016"/> zum Beispiel Herder bei allen Epen zu empfinden bekannte), <lb n="pst_127.017"/> kann der Epiker mit durchaus eigentümlichen <lb n="pst_127.018"/> Mitteln begegnen, indem er nämlich durch den folgenden <lb n="pst_127.019"/> Teil den früheren überbietet und so den Hörer beständig <lb n="pst_127.020"/> fesselt. Der Dramatiker überbietet nicht. Er fesselt <lb n="pst_127.021"/> auch nicht, sondern er spannt. Die Ungeduld im <lb n="pst_127.022"/> Dramatischen entsteht aus der Erkenntnis, daß den <lb n="pst_127.023"/> früheren Teilen noch etwas fehlt, daß sie noch einer Ergänzung <lb n="pst_127.024"/> bedürfen, um sinnvoll oder verständlich zu <lb n="pst_127.025"/> sein. Diese Ergänzung ist das Ende, auf das im Dramatischen <lb n="pst_127.026"/> alles ankommt. Ganz anders das epische Überbieten! <lb n="pst_127.027"/> Da wird ein Einzelnes vorgestellt als selbständiges <lb n="pst_127.028"/> Stück. Damit das Interesse nicht nachläßt, muß das <lb n="pst_127.029"/> nächste Stück noch reicher, noch schrecklicher oder <lb n="pst_127.030"/> lieblicher sein, so, um ein kürzeres Beispiel zu nennen, <lb n="pst_127.031"/> im sechszehnten Gesang der «Ilias», wo Homer im </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [127/0131]
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Taten, Vorgängen, die im Hinblick aufs Ganze pst_127.002
entbehrlich sind und im Sinne strenger Komposition pst_127.003
als Fehler bezeichnet werden müßten. Wer drum sein pst_127.004
Augenmerk vor allem auf eine große Linie richtet und pst_127.005
zwischen weit voneinander entfernten Szenen Fäden zu pst_127.006
ziehen beginnt, der blickt am Schwerpunkt der poetischen pst_127.007
Tätigkeit Homers vorbei und gibt zu verstehen, pst_127.008
daß ihm die Einfalt epischer Dichtung nicht genügt.
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Das wahrhaft epische Kompositionsprinzip ist die einfache pst_127.010
Addition. Im Kleinen wie im Großen werden pst_127.011
selbständige Teile zusammengesetzt. Die Addition geht pst_127.012
immer weiter. Ein Ende wäre nur zu finden, wenn es pst_127.013
gelänge, den gesamten orbis terrarum abzuschreiten pst_127.014
und schlechthin alles, was irgendwo ist oder war, zu vergegenwärtigen. pst_127.015
Der Langeweile, die dabei droht (die pst_127.016
zum Beispiel Herder bei allen Epen zu empfinden bekannte), pst_127.017
kann der Epiker mit durchaus eigentümlichen pst_127.018
Mitteln begegnen, indem er nämlich durch den folgenden pst_127.019
Teil den früheren überbietet und so den Hörer beständig pst_127.020
fesselt. Der Dramatiker überbietet nicht. Er fesselt pst_127.021
auch nicht, sondern er spannt. Die Ungeduld im pst_127.022
Dramatischen entsteht aus der Erkenntnis, daß den pst_127.023
früheren Teilen noch etwas fehlt, daß sie noch einer Ergänzung pst_127.024
bedürfen, um sinnvoll oder verständlich zu pst_127.025
sein. Diese Ergänzung ist das Ende, auf das im Dramatischen pst_127.026
alles ankommt. Ganz anders das epische Überbieten! pst_127.027
Da wird ein Einzelnes vorgestellt als selbständiges pst_127.028
Stück. Damit das Interesse nicht nachläßt, muß das pst_127.029
nächste Stück noch reicher, noch schrecklicher oder pst_127.030
lieblicher sein, so, um ein kürzeres Beispiel zu nennen, pst_127.031
im sechszehnten Gesang der «Ilias», wo Homer im
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