pst_009.001 Schiller "Hermann und Dorothea"1 - als dramatisch pst_009.002 bezeichne, muß ich schon wissen, was lyrisch oder dramatisch pst_009.003 ist. Ich weiß dies nicht, indem ich mich an alle pst_009.004 vorhandenen lyrischen Gedichte und Dramen erinnere. pst_009.005 Diese Fülle verwirrt mich nur. Ich habe vielmehr vom pst_009.006 Lyrischen, Epischen und Dramatischen eine Idee. pst_009.007 Diese Idee ist mir irgendeinmal an einem Beispiel aufgegangen. pst_009.008 Das Beispiel wird vermutlich eine bestimmte pst_009.009 Dichtung gewesen sein. Aber nicht einmal dies ist nötig. pst_009.010 Die, um mit Husserl2 zu reden, "ideale Bedeutung" pst_009.011 , lyrisch' kann ich vor einer Landschaft erfahren pst_009.012 haben, was episch, ist etwa vor einem Flüchtlingsstrom; pst_009.013 den Sinn von ,dramatisch ' prägt mir vielleicht ein pst_009.014 Wortwechsel ein. Solche Bedeutungen stehen fest. Es pst_009.015 ist, wie Husserl gezeigt hat, widersinnig zu sagen, sie pst_009.016 können schwanken. Schwanken kann der Gehalt der pst_009.017 Dichtungen, die ich nach der Idee bemesse; das Einzelne pst_009.018 mag mehr oder minder lyrisch, episch, dramatisch pst_009.019 sein. Ferner können an Unsicherheit die "bedeutungverleihenden pst_009.020 Akte" leiden. Doch eine Idee von pst_009.021 "lyrisch", die ich einmal gefaßt habe, ist so unverrückbar pst_009.022 wie die Idee des Dreiecks oder wie die Idee von pst_009.023 "rot", objektiv, meinem Belieben entrückt.
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Mag aber die Idee auch unveränderlich sein, vielleicht pst_009.025 ist sie falsch. Wer rotgrünblind ist, hat keine pst_009.026 richtige Idee von "rot". Gewiß! Doch diese Frage betrifft pst_009.027 nur die terminologische Zweckmäßigkeit. Meine pst_009.028 Idee von "rot" muß dem entsprechen, was man gemeinhin pst_009.029 "rot" nennt. Sonst brauche ich ein falsches
1pst_009.030 an Goethe 26. Dezember 1797.
2pst_009.031 Logische Untersuchungen, 4. Aufl. Halle 1928, Bd. II, 1, S. 91 ff.
pst_009.001 Schiller «Hermann und Dorothea»1 – als dramatisch pst_009.002 bezeichne, muß ich schon wissen, was lyrisch oder dramatisch pst_009.003 ist. Ich weiß dies nicht, indem ich mich an alle pst_009.004 vorhandenen lyrischen Gedichte und Dramen erinnere. pst_009.005 Diese Fülle verwirrt mich nur. Ich habe vielmehr vom pst_009.006 Lyrischen, Epischen und Dramatischen eine Idee. pst_009.007 Diese Idee ist mir irgendeinmal an einem Beispiel aufgegangen. pst_009.008 Das Beispiel wird vermutlich eine bestimmte pst_009.009 Dichtung gewesen sein. Aber nicht einmal dies ist nötig. pst_009.010 Die, um mit Husserl2 zu reden, «ideale Bedeutung» pst_009.011 ‚ lyrisch‘ kann ich vor einer Landschaft erfahren pst_009.012 haben, was episch, ist etwa vor einem Flüchtlingsstrom; pst_009.013 den Sinn von ‚dramatisch ‘ prägt mir vielleicht ein pst_009.014 Wortwechsel ein. Solche Bedeutungen stehen fest. Es pst_009.015 ist, wie Husserl gezeigt hat, widersinnig zu sagen, sie pst_009.016 können schwanken. Schwanken kann der Gehalt der pst_009.017 Dichtungen, die ich nach der Idee bemesse; das Einzelne pst_009.018 mag mehr oder minder lyrisch, episch, dramatisch pst_009.019 sein. Ferner können an Unsicherheit die «bedeutungverleihenden pst_009.020 Akte» leiden. Doch eine Idee von pst_009.021 «lyrisch», die ich einmal gefaßt habe, ist so unverrückbar pst_009.022 wie die Idee des Dreiecks oder wie die Idee von pst_009.023 «rot», objektiv, meinem Belieben entrückt.
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Mag aber die Idee auch unveränderlich sein, vielleicht pst_009.025 ist sie falsch. Wer rotgrünblind ist, hat keine pst_009.026 richtige Idee von «rot». Gewiß! Doch diese Frage betrifft pst_009.027 nur die terminologische Zweckmäßigkeit. Meine pst_009.028 Idee von «rot» muß dem entsprechen, was man gemeinhin pst_009.029 «rot» nennt. Sonst brauche ich ein falsches
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[E9/0013]
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bezeichne, muß ich schon wissen, was lyrisch oder dramatisch pst_009.003
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Die, um mit Husserl 2 zu reden, «ideale Bedeutung» pst_009.011
‚ lyrisch‘ kann ich vor einer Landschaft erfahren pst_009.012
haben, was episch, ist etwa vor einem Flüchtlingsstrom; pst_009.013
den Sinn von ‚dramatisch ‘ prägt mir vielleicht ein pst_009.014
Wortwechsel ein. Solche Bedeutungen stehen fest. Es pst_009.015
ist, wie Husserl gezeigt hat, widersinnig zu sagen, sie pst_009.016
können schwanken. Schwanken kann der Gehalt der pst_009.017
Dichtungen, die ich nach der Idee bemesse; das Einzelne pst_009.018
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sein. Ferner können an Unsicherheit die «bedeutungverleihenden pst_009.020
Akte» leiden. Doch eine Idee von pst_009.021
«lyrisch», die ich einmal gefaßt habe, ist so unverrückbar pst_009.022
wie die Idee des Dreiecks oder wie die Idee von pst_009.023
«rot», objektiv, meinem Belieben entrückt.
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Mag aber die Idee auch unveränderlich sein, vielleicht pst_009.025
ist sie falsch. Wer rotgrünblind ist, hat keine pst_009.026
richtige Idee von «rot». Gewiß! Doch diese Frage betrifft pst_009.027
nur die terminologische Zweckmäßigkeit. Meine pst_009.028
Idee von «rot» muß dem entsprechen, was man gemeinhin pst_009.029
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1 pst_009.030
an Goethe 26. Dezember 1797.
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Logische Untersuchungen, 4. Aufl. Halle 1928, Bd. II, 1, S. 91 ff.
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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. E9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/13>, abgerufen am 16.07.2024.
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