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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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kann ich nichts anfangen. Sogar ihre Rhythmik wird pst_119.002
mir erst vernehmlich, wenn ich weiß, daß sie von pst_119.003
Eichendorff stammt, oder wenn sie mir in dem Gedicht pst_119.004
"Heimkehr", getragen von dem lyrischen Strom des pst_119.005
Ganzen, die Seele berührt. Der epische Hexameter aber pst_119.006
ist ein selbständiges rhythmisches Stück, das nicht im pst_119.007
Strom zerrinnt, sondern dasteht und sich behauptet. pst_119.008
Den Halt verleiht ihm die Zäsur. Davon überzeugt man pst_119.009
sich leicht, wenn man Hexameter ohne Zäsur richtig pst_119.010
gebauten gegenüberstellt:

pst_119.011

"Elim bedeckt' ihn mit Sprößlingszweigen des pst_119.012
schattenden Ölbaums ..."
(Klopstock) pst_119.013
"Also bestatteten jene / den Leib des reisigen Hektor"
pst_119.014
(Homer-Voß) pst_119.015
"Weisere Männer bedürfen minder der Könige pst_119.016
Freundschaft ..."
(Herder) pst_119.017
"Aller Zustand ist gut, / der natürlich ist und pst_119.018
vernünftig ..."
(Goethe)

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Wie ein kleiner Stift scheint die Zäsur den Vers zu befestigen, pst_119.020
damit ihn nicht ein unaufhaltsames Strömen pst_119.021
von Daktylen mit sich reiße. Doch ein kleiner, ein pst_119.022
leichter Stift ist sie nur, wohl unterschieden von der viel pst_119.023
rigoroseren Zäsur des Alexandriners, die den Vers so pst_119.024
scharf in zwei Teile trennt, daß man gezwungen ist, die pst_119.025
Trennung als Entgegensetzung zu fassen und einen logischen pst_119.026
Bezug der beiden Hälften herzustellen.

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Im Hexameter ist ein einfaches Ganzes faßlich auseinandergesetzt. pst_119.028
Bei Homer, der bereits ein später Meister pst_119.029
des Hexameters ist, kommt freilich auch der Zeilensprung

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Eichendorff stammt, oder wenn sie mir in dem Gedicht pst_119.004
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Den Halt verleiht ihm die Zäsur. Davon überzeugt man pst_119.009
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«Elim bedeckt' ihn mit Sprößlingszweigen des pst_119.012
schattenden Ölbaums ...»
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Freundschaft ...»
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«Aller Zustand ist gut, / der natürlich ist und pst_119.018
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(Goethe)

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Wie ein kleiner Stift scheint die Zäsur den Vers zu befestigen, pst_119.020
damit ihn nicht ein unaufhaltsames Strömen pst_119.021
von Daktylen mit sich reiße. Doch ein kleiner, ein pst_119.022
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  Im Hexameter ist ein einfaches Ganzes faßlich auseinandergesetzt. pst_119.028
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[119/0123] pst_119.001 kann ich nichts anfangen. Sogar ihre Rhythmik wird pst_119.002 mir erst vernehmlich, wenn ich weiß, daß sie von pst_119.003 Eichendorff stammt, oder wenn sie mir in dem Gedicht pst_119.004 «Heimkehr», getragen von dem lyrischen Strom des pst_119.005 Ganzen, die Seele berührt. Der epische Hexameter aber pst_119.006 ist ein selbständiges rhythmisches Stück, das nicht im pst_119.007 Strom zerrinnt, sondern dasteht und sich behauptet. pst_119.008 Den Halt verleiht ihm die Zäsur. Davon überzeugt man pst_119.009 sich leicht, wenn man Hexameter ohne Zäsur richtig pst_119.010 gebauten gegenüberstellt: pst_119.011 «Elim bedeckt' ihn mit Sprößlingszweigen des pst_119.012 schattenden Ölbaums ...» (Klopstock) pst_119.013 «Also bestatteten jene / den Leib des reisigen Hektor» pst_119.014 (Homer-Voß) pst_119.015 «Weisere Männer bedürfen minder der Könige pst_119.016 Freundschaft ...» (Herder) pst_119.017 «Aller Zustand ist gut, / der natürlich ist und pst_119.018 vernünftig ...» (Goethe) pst_119.019 Wie ein kleiner Stift scheint die Zäsur den Vers zu befestigen, pst_119.020 damit ihn nicht ein unaufhaltsames Strömen pst_119.021 von Daktylen mit sich reiße. Doch ein kleiner, ein pst_119.022 leichter Stift ist sie nur, wohl unterschieden von der viel pst_119.023 rigoroseren Zäsur des Alexandriners, die den Vers so pst_119.024 scharf in zwei Teile trennt, daß man gezwungen ist, die pst_119.025 Trennung als Entgegensetzung zu fassen und einen logischen pst_119.026 Bezug der beiden Hälften herzustellen. pst_119.027   Im Hexameter ist ein einfaches Ganzes faßlich auseinandergesetzt. pst_119.028 Bei Homer, der bereits ein später Meister pst_119.029 des Hexameters ist, kommt freilich auch der Zeilensprung

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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/123>, abgerufen am 04.05.2024.