Der Herr Pfarrer war aufgestanden; er hielt dem Alten die Hand hin und sagte nochmals mit Herzlichkeit: "Ich zähle darauf, Nachbar, im nächsten Winter seid Ihr wieder unten bei uns und wir sind die alten, guten Nachbarn. Es würde mir große Mühe machen, wenn ein Zwang gegen Euch müßte angewandt werden; gebt mir jetzt die Hand darauf, daß Ihr herunterkommt und wieder unter uns leben wollt, ausgesöhnt mit Gott und den Menschen."
Der Alm-Oehi gab dem Herrn Pfarrer die Hand und sagte fest und bestimmt: "Der Herr Pfarrer meint es recht mit mir; aber was er erwartet, das thu' ich nicht, ich sag' es sicher und ohne Wandel: das Kind schick' ich nicht, und herunter komm' ich nicht."
"So helf' Euch Gott!" sagte der Herr Pfarrer und ging traurig zur Thür hinaus und den Berg hinunter.
Der Alm-Oehi war verstimmt. Als Heidi am Nachmittag sagte: "Jetzt wollen wir zur Großmutter", erwiderte er kurz: "Heut' nicht." Den ganzen Tag sprach er nicht mehr, und am folgenden Morgen, als Heidi fragte: "Gehen wir heut' zur Großmutter?" war er noch gleich kurz von Worten wie im Ton und sagte nur: "Wollen sehen." Aber noch bevor die Schüsselchen vom Mittagessen weggestellt waren, trat schon wieder ein Besuch zur Thür herein, es war die Base Dete. Sie hatte einen schönen Hut auf dem Kopf mit einer Feder drauf und ein Kleid, das Alles mitfegte, was am Boden lag, und in der Sennhütte lag da Allerlei,
Der Herr Pfarrer war aufgeſtanden; er hielt dem Alten die Hand hin und ſagte nochmals mit Herzlichkeit: „Ich zähle darauf, Nachbar, im nächſten Winter ſeid Ihr wieder unten bei uns und wir ſind die alten, guten Nachbarn. Es würde mir große Mühe machen, wenn ein Zwang gegen Euch müßte angewandt werden; gebt mir jetzt die Hand darauf, daß Ihr herunterkommt und wieder unter uns leben wollt, ausgeſöhnt mit Gott und den Menſchen.“
Der Alm-Oehi gab dem Herrn Pfarrer die Hand und ſagte feſt und beſtimmt: „Der Herr Pfarrer meint es recht mit mir; aber was er erwartet, das thu' ich nicht, ich ſag' es ſicher und ohne Wandel: das Kind ſchick' ich nicht, und herunter komm' ich nicht.“
„So helf' Euch Gott!“ ſagte der Herr Pfarrer und ging traurig zur Thür hinaus und den Berg hinunter.
Der Alm-Oehi war verſtimmt. Als Heidi am Nachmittag ſagte: „Jetzt wollen wir zur Großmutter“, erwiderte er kurz: „Heut' nicht.“ Den ganzen Tag ſprach er nicht mehr, und am folgenden Morgen, als Heidi fragte: „Gehen wir heut' zur Großmutter?“ war er noch gleich kurz von Worten wie im Ton und ſagte nur: „Wollen ſehen.“ Aber noch bevor die Schüſſelchen vom Mittageſſen weggeſtellt waren, trat ſchon wieder ein Beſuch zur Thür herein, es war die Baſe Dete. Sie hatte einen ſchönen Hut auf dem Kopf mit einer Feder drauf und ein Kleid, das Alles mitfegte, was am Boden lag, und in der Sennhütte lag da Allerlei,
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Der Herr Pfarrer war aufgeſtanden; er hielt dem Alten
die Hand hin und ſagte nochmals mit Herzlichkeit: „Ich
zähle darauf, Nachbar, im nächſten Winter ſeid Ihr wieder
unten bei uns und wir ſind die alten, guten Nachbarn.
Es würde mir große Mühe machen, wenn ein Zwang gegen
Euch müßte angewandt werden; gebt mir jetzt die Hand
darauf, daß Ihr herunterkommt und wieder unter uns leben
wollt, ausgeſöhnt mit Gott und den Menſchen.“
Der Alm-Oehi gab dem Herrn Pfarrer die Hand und
ſagte feſt und beſtimmt: „Der Herr Pfarrer meint es
recht mit mir; aber was er erwartet, das thu' ich nicht,
ich ſag' es ſicher und ohne Wandel: das Kind ſchick' ich nicht,
und herunter komm' ich nicht.“
„So helf' Euch Gott!“ ſagte der Herr Pfarrer und
ging traurig zur Thür hinaus und den Berg hinunter.
Der Alm-Oehi war verſtimmt. Als Heidi am Nachmittag
ſagte: „Jetzt wollen wir zur Großmutter“, erwiderte er
kurz: „Heut' nicht.“ Den ganzen Tag ſprach er nicht mehr,
und am folgenden Morgen, als Heidi fragte: „Gehen wir
heut' zur Großmutter?“ war er noch gleich kurz von Worten
wie im Ton und ſagte nur: „Wollen ſehen.“ Aber noch
bevor die Schüſſelchen vom Mittageſſen weggeſtellt waren,
trat ſchon wieder ein Beſuch zur Thür herein, es war die
Baſe Dete. Sie hatte einen ſchönen Hut auf dem Kopf
mit einer Feder drauf und ein Kleid, das Alles mitfegte,
was am Boden lag, und in der Sennhütte lag da Allerlei,
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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/88>, abgerufen am 22.07.2024.
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