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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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"weißt, wann dann wieder die Sonne ganz heiß herunter¬
brennt und dann gute Nacht sagt und die Berge alle
feuerroth schimmern und alle gelben Blümlein glitzern, dann
wird es dir wieder schön hell?"

"Ach Kind, ich kann sie nie mehr sehen, die feurigen
Berge und die goldenen Blümlein droben, es wird mir nie
mehr hell auf Erden, nie mehr."

Jetzt brach Heidi in lautes Weinen aus. Voller
Jammer schluchzte es fortwährend: "Wer kann dir denn
wieder hell machen? Kann es Niemand? Kann es gar
Niemand?"

Die Großmutter suchte nun das Kind zu trösten, aber
es gelang ihr nicht so bald. Heidi weinte fast nie; wenn
es aber einmal anfing, dann konnte es auch fast nicht mehr
aus der Betrübniß herauskommen. Die Großmutter hatte
schon allerhand probiert, um das Kind zu beschwichtigen,
denn es ging ihr zu Herzen, daß es so jämmerlich schluchzen
mußte. Jetzt sagte sie: "Komm', du gutes Heidi, komm'
hier heran, ich will dir etwas sagen. Siehst du, wenn
man Nichts sehen kann, dann hört man so gern ein freund¬
liches Wort und ich höre es gern, wenn du redest; komm',
setz' dich da nahe zu mir und erzähl' mir Etwas, was du
machst da droben und was der Großvater macht, ich habe
ihn früher gut gekannt; aber jetzt hab' ich seit manchem
Jahr Nichts mehr gehört von ihm, als durch den Peter,
aber der sagt nicht viel."

„weißt, wann dann wieder die Sonne ganz heiß herunter¬
brennt und dann gute Nacht ſagt und die Berge alle
feuerroth ſchimmern und alle gelben Blümlein glitzern, dann
wird es dir wieder ſchön hell?“

„Ach Kind, ich kann ſie nie mehr ſehen, die feurigen
Berge und die goldenen Blümlein droben, es wird mir nie
mehr hell auf Erden, nie mehr.“

Jetzt brach Heidi in lautes Weinen aus. Voller
Jammer ſchluchzte es fortwährend: „Wer kann dir denn
wieder hell machen? Kann es Niemand? Kann es gar
Niemand?“

Die Großmutter ſuchte nun das Kind zu tröſten, aber
es gelang ihr nicht ſo bald. Heidi weinte faſt nie; wenn
es aber einmal anfing, dann konnte es auch faſt nicht mehr
aus der Betrübniß herauskommen. Die Großmutter hatte
ſchon allerhand probiert, um das Kind zu beſchwichtigen,
denn es ging ihr zu Herzen, daß es ſo jämmerlich ſchluchzen
mußte. Jetzt ſagte ſie: „Komm', du gutes Heidi, komm'
hier heran, ich will dir etwas ſagen. Siehſt du, wenn
man Nichts ſehen kann, dann hört man ſo gern ein freund¬
liches Wort und ich höre es gern, wenn du redeſt; komm',
ſetz' dich da nahe zu mir und erzähl' mir Etwas, was du
machſt da droben und was der Großvater macht, ich habe
ihn früher gut gekannt; aber jetzt hab' ich ſeit manchem
Jahr Nichts mehr gehört von ihm, als durch den Peter,
aber der ſagt nicht viel.“

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[62/0072] „weißt, wann dann wieder die Sonne ganz heiß herunter¬ brennt und dann gute Nacht ſagt und die Berge alle feuerroth ſchimmern und alle gelben Blümlein glitzern, dann wird es dir wieder ſchön hell?“ „Ach Kind, ich kann ſie nie mehr ſehen, die feurigen Berge und die goldenen Blümlein droben, es wird mir nie mehr hell auf Erden, nie mehr.“ Jetzt brach Heidi in lautes Weinen aus. Voller Jammer ſchluchzte es fortwährend: „Wer kann dir denn wieder hell machen? Kann es Niemand? Kann es gar Niemand?“ Die Großmutter ſuchte nun das Kind zu tröſten, aber es gelang ihr nicht ſo bald. Heidi weinte faſt nie; wenn es aber einmal anfing, dann konnte es auch faſt nicht mehr aus der Betrübniß herauskommen. Die Großmutter hatte ſchon allerhand probiert, um das Kind zu beſchwichtigen, denn es ging ihr zu Herzen, daß es ſo jämmerlich ſchluchzen mußte. Jetzt ſagte ſie: „Komm', du gutes Heidi, komm' hier heran, ich will dir etwas ſagen. Siehſt du, wenn man Nichts ſehen kann, dann hört man ſo gern ein freund¬ liches Wort und ich höre es gern, wenn du redeſt; komm', ſetz' dich da nahe zu mir und erzähl' mir Etwas, was du machſt da droben und was der Großvater macht, ich habe ihn früher gut gekannt; aber jetzt hab' ich ſeit manchem Jahr Nichts mehr gehört von ihm, als durch den Peter, aber der ſagt nicht viel.“

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/72>, abgerufen am 27.11.2024.