"Wo ist er jetzt hin?" fragte Heidi, das mit gespannter Aufmerksamkeit den Vogel verfolgt hatte.
"Heim in's Nest", war Peter's Antwort.
"Ist er dort oben daheim? O wie schön so hoch oben! Warum schreit er so?" fragte Heidi weiter.
"Weil er muß", erklärte Peter.
"Wir wollen doch dort hinaufklettern und sehen, wo er daheim ist", schlug Heidi vor.
"O! O! O!" brach der Peter aus, jeden Ausruf mit verstärkter Mißbilligung hervorstoßend, "wenn keine Gaiß mehr dort hinkann und der Oehi gesagt hat, du dürfest nicht über die Felsen hinunterfallen."
Jetzt begann der Peter mit einem Mal ein so gewal¬ tiges Pfeifen und Rufen anzustimmen, daß Heidi gar nicht wußte, was begegnen sollte: aber die Gaißen mußten die Töne verstehen, denn eine nach der andern kam herunter¬ gesprungen und nun war die ganze Schaar auf der grünen Halde versammelt, die Einen fortnagend an den würzigen Halmen, die Andern hin- und herrennend und die Dritten ein wenig gegeneinanderstoßend mit ihren Hörnern zum Zeitvertreib. Heidi war aufgesprungen und rannte mitten unter den Gaißen umher, denn das war ihm ein neuer, unbeschreiblich vergnüglicher Anblick, wie die Thierlein durch¬ einander sprangen und sich lustig machten, und Heidi sprang von einem zum andern und machte mit jedem ganz persön¬ liche Bekanntschaft, denn jedes war eine ganz besondere Er¬
„Wo iſt er jetzt hin?“ fragte Heidi, das mit geſpannter Aufmerkſamkeit den Vogel verfolgt hatte.
„Heim in's Neſt“, war Peter's Antwort.
„Iſt er dort oben daheim? O wie ſchön ſo hoch oben! Warum ſchreit er ſo?“ fragte Heidi weiter.
„Weil er muß“, erklärte Peter.
„Wir wollen doch dort hinaufklettern und ſehen, wo er daheim iſt“, ſchlug Heidi vor.
„O! O! O!“ brach der Peter aus, jeden Ausruf mit verſtärkter Mißbilligung hervorſtoßend, „wenn keine Gaiß mehr dort hinkann und der Oehi geſagt hat, du dürfeſt nicht über die Felſen hinunterfallen.“
Jetzt begann der Peter mit einem Mal ein ſo gewal¬ tiges Pfeifen und Rufen anzuſtimmen, daß Heidi gar nicht wußte, was begegnen ſollte: aber die Gaißen mußten die Töne verſtehen, denn eine nach der andern kam herunter¬ geſprungen und nun war die ganze Schaar auf der grünen Halde verſammelt, die Einen fortnagend an den würzigen Halmen, die Andern hin- und herrennend und die Dritten ein wenig gegeneinanderſtoßend mit ihren Hörnern zum Zeitvertreib. Heidi war aufgeſprungen und rannte mitten unter den Gaißen umher, denn das war ihm ein neuer, unbeſchreiblich vergnüglicher Anblick, wie die Thierlein durch¬ einander ſprangen und ſich luſtig machten, und Heidi ſprang von einem zum andern und machte mit jedem ganz perſön¬ liche Bekanntſchaft, denn jedes war eine ganz beſondere Er¬
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„Wo iſt er jetzt hin?“ fragte Heidi, das mit geſpannter
Aufmerkſamkeit den Vogel verfolgt hatte.
„Heim in's Neſt“, war Peter's Antwort.
„Iſt er dort oben daheim? O wie ſchön ſo hoch oben!
Warum ſchreit er ſo?“ fragte Heidi weiter.
„Weil er muß“, erklärte Peter.
„Wir wollen doch dort hinaufklettern und ſehen, wo
er daheim iſt“, ſchlug Heidi vor.
„O! O! O!“ brach der Peter aus, jeden Ausruf mit
verſtärkter Mißbilligung hervorſtoßend, „wenn keine Gaiß
mehr dort hinkann und der Oehi geſagt hat, du dürfeſt
nicht über die Felſen hinunterfallen.“
Jetzt begann der Peter mit einem Mal ein ſo gewal¬
tiges Pfeifen und Rufen anzuſtimmen, daß Heidi gar nicht
wußte, was begegnen ſollte: aber die Gaißen mußten die
Töne verſtehen, denn eine nach der andern kam herunter¬
geſprungen und nun war die ganze Schaar auf der grünen
Halde verſammelt, die Einen fortnagend an den würzigen
Halmen, die Andern hin- und herrennend und die Dritten
ein wenig gegeneinanderſtoßend mit ihren Hörnern zum
Zeitvertreib. Heidi war aufgeſprungen und rannte mitten
unter den Gaißen umher, denn das war ihm ein neuer,
unbeſchreiblich vergnüglicher Anblick, wie die Thierlein durch¬
einander ſprangen und ſich luſtig machten, und Heidi ſprang
von einem zum andern und machte mit jedem ganz perſön¬
liche Bekanntſchaft, denn jedes war eine ganz beſondere Er¬
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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/48>, abgerufen am 16.02.2025.
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