Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.Fräulein Rottenmeier kam nicht mehr aus der Aufregung 9*
Fräulein Rottenmeier kam nicht mehr aus der Aufregung 9*
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0141" n="131"/> Fräulein Rottenmeier kam nicht mehr aus der Aufregung<lb/> heraus, ſtündlich trat ihr die Täuſchung vor Augen, die ſie<lb/> in Heidi's Perſönlichkeit erlebt hatte, und es war ihr, als<lb/> ſei ſeit ſeiner Erſcheinung im Hauſe Seſemann Alles aus<lb/> den Fugen gekommen und komme nicht wieder hinein. Klara<lb/> war ſehr vergnügt; ſie langweilte ſich nie mehr, denn in<lb/> den Unterrichtsſtunden machte Heidi die kurzweiligſten Sachen:<lb/> die Buchſtaben machte es immer alle durcheinander und<lb/> konnte ſie nie kennen lernen, und wenn der Herr Candidat<lb/> mitten im Erklären und Beſchreiben ihrer Formen war,<lb/> um ſie ihm anſchaulicher zu machen und als Vergleichung<lb/> etwa von einem Hörnchen oder einem Schnabel ſprach da¬<lb/> bei, rief es auf einmal in aller Freude aus: „Es iſt eine<lb/> Gaiß!“ oder: „Es iſt der Raubvogel!“ Denn die Be¬<lb/> ſchreibungen weckten in ſeinem Gehirn allerlei Vorſtellungen,<lb/> nur keine Buchſtaben. In den ſpätern Nachmittagsſtunden<lb/> ſaß Heidi wieder bei Klara und erzählte ihr immer wieder<lb/> von der Alm und dem Leben dort, ſo viel und ſo lange,<lb/> bis das Verlangen darnach in ihm ſo brennend wurde, daß<lb/> es immer zum Schluß verſicherte: „Nun muß ich gewiß<lb/> wieder heim! Morgen muß ich gewiß gehen!“ Aber Klara<lb/> beſchwichtigte immer wieder dieſe Anfälle und bewies Heidi,<lb/> daß es doch ſicher da bleiben müſſe, bis der Papa komme;<lb/> dann werde man ſchon ſehen, wie es weiter gehe. Wenn<lb/> Heidi alsdann immer wieder nachgab und gleich wieder zu¬<lb/> frieden war, ſo half ihm eine fröhliche Ausſicht dazu, die<lb/> <fw place="bottom" type="sig">9*<lb/></fw> </p> </div> </body> </text> </TEI> [131/0141]
Fräulein Rottenmeier kam nicht mehr aus der Aufregung
heraus, ſtündlich trat ihr die Täuſchung vor Augen, die ſie
in Heidi's Perſönlichkeit erlebt hatte, und es war ihr, als
ſei ſeit ſeiner Erſcheinung im Hauſe Seſemann Alles aus
den Fugen gekommen und komme nicht wieder hinein. Klara
war ſehr vergnügt; ſie langweilte ſich nie mehr, denn in
den Unterrichtsſtunden machte Heidi die kurzweiligſten Sachen:
die Buchſtaben machte es immer alle durcheinander und
konnte ſie nie kennen lernen, und wenn der Herr Candidat
mitten im Erklären und Beſchreiben ihrer Formen war,
um ſie ihm anſchaulicher zu machen und als Vergleichung
etwa von einem Hörnchen oder einem Schnabel ſprach da¬
bei, rief es auf einmal in aller Freude aus: „Es iſt eine
Gaiß!“ oder: „Es iſt der Raubvogel!“ Denn die Be¬
ſchreibungen weckten in ſeinem Gehirn allerlei Vorſtellungen,
nur keine Buchſtaben. In den ſpätern Nachmittagsſtunden
ſaß Heidi wieder bei Klara und erzählte ihr immer wieder
von der Alm und dem Leben dort, ſo viel und ſo lange,
bis das Verlangen darnach in ihm ſo brennend wurde, daß
es immer zum Schluß verſicherte: „Nun muß ich gewiß
wieder heim! Morgen muß ich gewiß gehen!“ Aber Klara
beſchwichtigte immer wieder dieſe Anfälle und bewies Heidi,
daß es doch ſicher da bleiben müſſe, bis der Papa komme;
dann werde man ſchon ſehen, wie es weiter gehe. Wenn
Heidi alsdann immer wieder nachgab und gleich wieder zu¬
frieden war, ſo half ihm eine fröhliche Ausſicht dazu, die
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