Spindler, Karl: Die Engel-Ehe. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–66. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Abschiedsklagen und Beileidsbezeugungen ihrer Landsleute waren geschäftig gewesen, den Aberglauben der mit sich selbst in Zwiespalt gerathenen Frau fürchterlich aufzuwecken. Demzufolge sah sie nichts als Unheil und Verderben vor sich, und zwar als eine gerechte Strafe des Uebermuths ihres Gatten, der, um seiner Laune -- wie sie sein Heimweh nannte -- zu fröhnen, Stand und Erwerb aufgeben und seine Familie zwingen konnte, den Herd zu verlassen, an dem sie entstanden war. -- Darum schlug der Tod ihrer älteren Kinder, der bald zu Anfang der Reise erfolgte, wie ein Blitzstrahl in ihr Gehirn und versengte es, während ihr Gemüth vertrocknete. Sie fing an den Mann zu hassen, der nach ihren unvollkommenen Begriffen vom Leben und vom Schicksal in ihren Augen nichts Geringeres war, als der directe Mörder seiner eigenen Kinder. Darum packte beim Hinscheiden des dritten, des geliebtesten Söhnleins der Wahnsinn die Unglückliche, um sie von Stund' an nicht mehr loszulassen. -- Es war ein trauriges Schauspiel, die armen Reisenden unaufhaltsam den Schweizerbergen entgegen rennen zu sehen: Hagenbach, all sein Mißgeschick vergessend, beflügelt von patriotischer Freude; sein Weib darniedergeschmettert unterm Verlust ihrer Heimath und ihrer liebsten Schätze; die kleine Verena, die nicht mit dem Vater lachen, nicht mit der Mutter weinen konnte, weil sie Beider Freud' und Leid nicht faßte, und weil ihr Beide so seltsam und ungewohnt erschienen. Hinter den flüch- Abschiedsklagen und Beileidsbezeugungen ihrer Landsleute waren geschäftig gewesen, den Aberglauben der mit sich selbst in Zwiespalt gerathenen Frau fürchterlich aufzuwecken. Demzufolge sah sie nichts als Unheil und Verderben vor sich, und zwar als eine gerechte Strafe des Uebermuths ihres Gatten, der, um seiner Laune — wie sie sein Heimweh nannte — zu fröhnen, Stand und Erwerb aufgeben und seine Familie zwingen konnte, den Herd zu verlassen, an dem sie entstanden war. — Darum schlug der Tod ihrer älteren Kinder, der bald zu Anfang der Reise erfolgte, wie ein Blitzstrahl in ihr Gehirn und versengte es, während ihr Gemüth vertrocknete. Sie fing an den Mann zu hassen, der nach ihren unvollkommenen Begriffen vom Leben und vom Schicksal in ihren Augen nichts Geringeres war, als der directe Mörder seiner eigenen Kinder. Darum packte beim Hinscheiden des dritten, des geliebtesten Söhnleins der Wahnsinn die Unglückliche, um sie von Stund' an nicht mehr loszulassen. — Es war ein trauriges Schauspiel, die armen Reisenden unaufhaltsam den Schweizerbergen entgegen rennen zu sehen: Hagenbach, all sein Mißgeschick vergessend, beflügelt von patriotischer Freude; sein Weib darniedergeschmettert unterm Verlust ihrer Heimath und ihrer liebsten Schätze; die kleine Verena, die nicht mit dem Vater lachen, nicht mit der Mutter weinen konnte, weil sie Beider Freud' und Leid nicht faßte, und weil ihr Beide so seltsam und ungewohnt erschienen. Hinter den flüch- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0016"/> Abschiedsklagen und Beileidsbezeugungen ihrer Landsleute waren geschäftig gewesen, den Aberglauben der mit sich selbst in Zwiespalt gerathenen Frau fürchterlich aufzuwecken. Demzufolge sah sie nichts als Unheil und Verderben vor sich, und zwar als eine gerechte Strafe des Uebermuths ihres Gatten, der, um seiner Laune — wie sie sein Heimweh nannte — zu fröhnen, Stand und Erwerb aufgeben und seine Familie zwingen konnte, den Herd zu verlassen, an dem sie entstanden war. — Darum schlug der Tod ihrer älteren Kinder, der bald zu Anfang der Reise erfolgte, wie ein Blitzstrahl in ihr Gehirn und versengte es, während ihr Gemüth vertrocknete. Sie fing an den Mann zu hassen, der nach ihren unvollkommenen Begriffen vom Leben und vom Schicksal in ihren Augen nichts Geringeres war, als der directe Mörder seiner eigenen Kinder. Darum packte beim Hinscheiden des dritten, des geliebtesten Söhnleins der Wahnsinn die Unglückliche, um sie von Stund' an nicht mehr loszulassen. — Es war ein trauriges Schauspiel, die armen Reisenden unaufhaltsam den Schweizerbergen entgegen rennen zu sehen: Hagenbach, all sein Mißgeschick vergessend, beflügelt von patriotischer Freude; sein Weib darniedergeschmettert unterm Verlust ihrer Heimath und ihrer liebsten Schätze; die kleine Verena, die nicht mit dem Vater lachen, nicht mit der Mutter weinen konnte, weil sie Beider Freud' und Leid nicht faßte, und weil ihr Beide so seltsam und ungewohnt erschienen. Hinter den flüch-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0016]
Abschiedsklagen und Beileidsbezeugungen ihrer Landsleute waren geschäftig gewesen, den Aberglauben der mit sich selbst in Zwiespalt gerathenen Frau fürchterlich aufzuwecken. Demzufolge sah sie nichts als Unheil und Verderben vor sich, und zwar als eine gerechte Strafe des Uebermuths ihres Gatten, der, um seiner Laune — wie sie sein Heimweh nannte — zu fröhnen, Stand und Erwerb aufgeben und seine Familie zwingen konnte, den Herd zu verlassen, an dem sie entstanden war. — Darum schlug der Tod ihrer älteren Kinder, der bald zu Anfang der Reise erfolgte, wie ein Blitzstrahl in ihr Gehirn und versengte es, während ihr Gemüth vertrocknete. Sie fing an den Mann zu hassen, der nach ihren unvollkommenen Begriffen vom Leben und vom Schicksal in ihren Augen nichts Geringeres war, als der directe Mörder seiner eigenen Kinder. Darum packte beim Hinscheiden des dritten, des geliebtesten Söhnleins der Wahnsinn die Unglückliche, um sie von Stund' an nicht mehr loszulassen. — Es war ein trauriges Schauspiel, die armen Reisenden unaufhaltsam den Schweizerbergen entgegen rennen zu sehen: Hagenbach, all sein Mißgeschick vergessend, beflügelt von patriotischer Freude; sein Weib darniedergeschmettert unterm Verlust ihrer Heimath und ihrer liebsten Schätze; die kleine Verena, die nicht mit dem Vater lachen, nicht mit der Mutter weinen konnte, weil sie Beider Freud' und Leid nicht faßte, und weil ihr Beide so seltsam und ungewohnt erschienen. Hinter den flüch-
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Zitationshilfe: | Spindler, Karl: Die Engel-Ehe. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–66. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spindler_engel_1910/16>, abgerufen am 16.07.2024. |