Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 4. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

und Einbildungskraft gleich stark. Nur eini-
gemal war sie vermögend, die Gräfin für
allzuhastiger Eile zu warnen, aber die Ent-
zückte war unfähig die Warnung zu fassen,
das allzugrosse, wonnevolle Ziel riß sie mit
Allmachtsstärke empor, weckte jede Lebens-
kraft, spannte jede Sehne, um es nur bald,
nur schneller erreichen zu können. Endlich
war der Gipfel erstiegen, eine alte Eiche,
deren Stamm der wüthende Sturm oft gebo-
gen, aber nicht gebrochen hatte, stand un-
fern von ihnen. Unter ihrem Schatten ruhte
der verbannte Graf, er lag ausgestreckt am
Boden, die Rechte unterstützte sein nach-
denkendes Haupt, sein Auge starrte in die
ferne Gegend. Der Alte wollte ihn aus sei-
nem Traume wecken, aber die Sehnsucht der
liebenden Gattin überflügelte seine Schritte.

Mein Karl! Schrie sie wonnetrunken,
als sie sich nahte. Mein Vater! riefen die

und Einbildungskraft gleich ſtark. Nur eini-
gemal war ſie vermoͤgend, die Graͤfin fuͤr
allzuhaſtiger Eile zu warnen, aber die Ent-
zuͤckte war unfaͤhig die Warnung zu faſſen,
das allzugroſſe, wonnevolle Ziel riß ſie mit
Allmachtsſtaͤrke empor, weckte jede Lebens-
kraft, ſpannte jede Sehne, um es nur bald,
nur ſchneller erreichen zu koͤnnen. Endlich
war der Gipfel erſtiegen, eine alte Eiche,
deren Stamm der wuͤthende Sturm oft gebo-
gen, aber nicht gebrochen hatte, ſtand un-
fern von ihnen. Unter ihrem Schatten ruhte
der verbannte Graf, er lag ausgeſtreckt am
Boden, die Rechte unterſtuͤtzte ſein nach-
denkendes Haupt, ſein Auge ſtarrte in die
ferne Gegend. Der Alte wollte ihn aus ſei-
nem Traume wecken, aber die Sehnſucht der
liebenden Gattin uͤberfluͤgelte ſeine Schritte.

Mein Karl! Schrie ſie wonnetrunken,
als ſie ſich nahte. Mein Vater! riefen die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0181" n="171"/>
und Einbildungskraft gleich &#x017F;tark. Nur eini-<lb/>
gemal war &#x017F;ie vermo&#x0364;gend, die Gra&#x0364;fin fu&#x0364;r<lb/>
allzuha&#x017F;tiger Eile zu warnen, aber die Ent-<lb/>
zu&#x0364;ckte war unfa&#x0364;hig die Warnung zu fa&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
das allzugro&#x017F;&#x017F;e, wonnevolle Ziel riß &#x017F;ie mit<lb/>
Allmachts&#x017F;ta&#x0364;rke empor, weckte jede Lebens-<lb/>
kraft, &#x017F;pannte jede Sehne, um es nur bald,<lb/>
nur &#x017F;chneller erreichen zu ko&#x0364;nnen. Endlich<lb/>
war der Gipfel er&#x017F;tiegen, eine alte Eiche,<lb/>
deren Stamm der wu&#x0364;thende Sturm oft gebo-<lb/>
gen, aber nicht gebrochen hatte, &#x017F;tand un-<lb/>
fern von ihnen. Unter ihrem Schatten ruhte<lb/>
der verbannte Graf, er lag ausge&#x017F;treckt am<lb/>
Boden, die Rechte unter&#x017F;tu&#x0364;tzte &#x017F;ein nach-<lb/>
denkendes Haupt, &#x017F;ein Auge &#x017F;tarrte in die<lb/>
ferne Gegend. Der Alte wollte ihn aus &#x017F;ei-<lb/>
nem Traume wecken, aber die Sehn&#x017F;ucht der<lb/>
liebenden Gattin u&#x0364;berflu&#x0364;gelte &#x017F;eine Schritte.</p><lb/>
        <p>Mein Karl! Schrie &#x017F;ie wonnetrunken,<lb/>
als &#x017F;ie &#x017F;ich nahte. Mein Vater! riefen die<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[171/0181] und Einbildungskraft gleich ſtark. Nur eini- gemal war ſie vermoͤgend, die Graͤfin fuͤr allzuhaſtiger Eile zu warnen, aber die Ent- zuͤckte war unfaͤhig die Warnung zu faſſen, das allzugroſſe, wonnevolle Ziel riß ſie mit Allmachtsſtaͤrke empor, weckte jede Lebens- kraft, ſpannte jede Sehne, um es nur bald, nur ſchneller erreichen zu koͤnnen. Endlich war der Gipfel erſtiegen, eine alte Eiche, deren Stamm der wuͤthende Sturm oft gebo- gen, aber nicht gebrochen hatte, ſtand un- fern von ihnen. Unter ihrem Schatten ruhte der verbannte Graf, er lag ausgeſtreckt am Boden, die Rechte unterſtuͤtzte ſein nach- denkendes Haupt, ſein Auge ſtarrte in die ferne Gegend. Der Alte wollte ihn aus ſei- nem Traume wecken, aber die Sehnſucht der liebenden Gattin uͤberfluͤgelte ſeine Schritte. Mein Karl! Schrie ſie wonnetrunken, als ſie ſich nahte. Mein Vater! riefen die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien04_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien04_1796/181
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 4. Leipzig, 1796, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien04_1796/181>, abgerufen am 02.05.2024.