Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 3. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

ser seltnen Freunde irgend eine Empfindung,
Gefühl oder Stellung bemerkt, welche der an-
dere nicht zugleich, ohne ihn anzublicken, nach-
ahmte. Sie gleichen vollkommen den fremden
Vögeln, welche man die Unzertrennlichen
nennt, weil sie stets nebeneinander sitzen, mit
einander fressen und trinken.

Einst wagte ich's, sie zu trennen, aber
beide raßten schrecklich, und sanken einander
wonnetrunken in die Arme, wie ich sie wieder
zusammenführte. Merkwürdig, aber durch die
sorgfältigste Beobachtung ist es überdies erwie-
sen, daß sie nie ein Wort mit einander, oder
mit irgend einem Menschen sprachen. Sie ge-
hen meistens still, ohne jemanden zu beleidi-
gen, im Saale auf und nieder, stehen nur
selten stille, und suchen dann durch gleichför-
mige, aber äusserst ausdrucksvolle Pantomime
ihren Schmerz, ihren Kummer auszudrücken.
Wenn die Uhr im Saale Zehne schlägt, so

ſer ſeltnen Freunde irgend eine Empfindung,
Gefuͤhl oder Stellung bemerkt, welche der an-
dere nicht zugleich, ohne ihn anzublicken, nach-
ahmte. Sie gleichen vollkommen den fremden
Voͤgeln, welche man die Unzertrennlichen
nennt, weil ſie ſtets nebeneinander ſitzen, mit
einander freſſen und trinken.

Einſt wagte ich's, ſie zu trennen, aber
beide raßten ſchrecklich, und ſanken einander
wonnetrunken in die Arme, wie ich ſie wieder
zuſammenfuͤhrte. Merkwuͤrdig, aber durch die
ſorgfaͤltigſte Beobachtung iſt es uͤberdies erwie-
ſen, daß ſie nie ein Wort mit einander, oder
mit irgend einem Menſchen ſprachen. Sie ge-
hen meiſtens ſtill, ohne jemanden zu beleidi-
gen, im Saale auf und nieder, ſtehen nur
ſelten ſtille, und ſuchen dann durch gleichfoͤr-
mige, aber aͤuſſerſt ausdrucksvolle Pantomime
ihren Schmerz, ihren Kummer auszudruͤcken.
Wenn die Uhr im Saale Zehne ſchlaͤgt, ſo

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0232" n="218"/>
&#x017F;er &#x017F;eltnen Freunde irgend eine Empfindung,<lb/>
Gefu&#x0364;hl oder Stellung bemerkt, welche der an-<lb/>
dere nicht zugleich, ohne ihn anzublicken, nach-<lb/>
ahmte. Sie gleichen vollkommen den fremden<lb/>
Vo&#x0364;geln, welche man die Unzertrennlichen<lb/>
nennt, weil &#x017F;ie &#x017F;tets nebeneinander &#x017F;itzen, mit<lb/>
einander fre&#x017F;&#x017F;en und trinken.</p><lb/>
        <p>Ein&#x017F;t wagte ich's, &#x017F;ie zu trennen, aber<lb/>
beide raßten &#x017F;chrecklich, und &#x017F;anken einander<lb/>
wonnetrunken in die Arme, wie ich &#x017F;ie wieder<lb/>
zu&#x017F;ammenfu&#x0364;hrte. Merkwu&#x0364;rdig, aber durch die<lb/>
&#x017F;orgfa&#x0364;ltig&#x017F;te Beobachtung i&#x017F;t es u&#x0364;berdies erwie-<lb/>
&#x017F;en, daß &#x017F;ie nie ein Wort mit einander, oder<lb/>
mit irgend einem Men&#x017F;chen &#x017F;prachen. Sie ge-<lb/>
hen mei&#x017F;tens &#x017F;till, ohne jemanden zu beleidi-<lb/>
gen, im Saale auf und nieder, &#x017F;tehen nur<lb/>
&#x017F;elten &#x017F;tille, und &#x017F;uchen dann durch gleichfo&#x0364;r-<lb/>
mige, aber a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;er&#x017F;t ausdrucksvolle Pantomime<lb/>
ihren Schmerz, ihren Kummer auszudru&#x0364;cken.<lb/>
Wenn die Uhr im Saale Zehne &#x017F;chla&#x0364;gt, &#x017F;o<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[218/0232] ſer ſeltnen Freunde irgend eine Empfindung, Gefuͤhl oder Stellung bemerkt, welche der an- dere nicht zugleich, ohne ihn anzublicken, nach- ahmte. Sie gleichen vollkommen den fremden Voͤgeln, welche man die Unzertrennlichen nennt, weil ſie ſtets nebeneinander ſitzen, mit einander freſſen und trinken. Einſt wagte ich's, ſie zu trennen, aber beide raßten ſchrecklich, und ſanken einander wonnetrunken in die Arme, wie ich ſie wieder zuſammenfuͤhrte. Merkwuͤrdig, aber durch die ſorgfaͤltigſte Beobachtung iſt es uͤberdies erwie- ſen, daß ſie nie ein Wort mit einander, oder mit irgend einem Menſchen ſprachen. Sie ge- hen meiſtens ſtill, ohne jemanden zu beleidi- gen, im Saale auf und nieder, ſtehen nur ſelten ſtille, und ſuchen dann durch gleichfoͤr- mige, aber aͤuſſerſt ausdrucksvolle Pantomime ihren Schmerz, ihren Kummer auszudruͤcken. Wenn die Uhr im Saale Zehne ſchlaͤgt, ſo

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796/232
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 3. Leipzig, 1796, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796/232>, abgerufen am 24.11.2024.