ser seltnen Freunde irgend eine Empfindung, Gefühl oder Stellung bemerkt, welche der an- dere nicht zugleich, ohne ihn anzublicken, nach- ahmte. Sie gleichen vollkommen den fremden Vögeln, welche man die Unzertrennlichen nennt, weil sie stets nebeneinander sitzen, mit einander fressen und trinken.
Einst wagte ich's, sie zu trennen, aber beide raßten schrecklich, und sanken einander wonnetrunken in die Arme, wie ich sie wieder zusammenführte. Merkwürdig, aber durch die sorgfältigste Beobachtung ist es überdies erwie- sen, daß sie nie ein Wort mit einander, oder mit irgend einem Menschen sprachen. Sie ge- hen meistens still, ohne jemanden zu beleidi- gen, im Saale auf und nieder, stehen nur selten stille, und suchen dann durch gleichför- mige, aber äusserst ausdrucksvolle Pantomime ihren Schmerz, ihren Kummer auszudrücken. Wenn die Uhr im Saale Zehne schlägt, so
ſer ſeltnen Freunde irgend eine Empfindung, Gefuͤhl oder Stellung bemerkt, welche der an- dere nicht zugleich, ohne ihn anzublicken, nach- ahmte. Sie gleichen vollkommen den fremden Voͤgeln, welche man die Unzertrennlichen nennt, weil ſie ſtets nebeneinander ſitzen, mit einander freſſen und trinken.
Einſt wagte ich's, ſie zu trennen, aber beide raßten ſchrecklich, und ſanken einander wonnetrunken in die Arme, wie ich ſie wieder zuſammenfuͤhrte. Merkwuͤrdig, aber durch die ſorgfaͤltigſte Beobachtung iſt es uͤberdies erwie- ſen, daß ſie nie ein Wort mit einander, oder mit irgend einem Menſchen ſprachen. Sie ge- hen meiſtens ſtill, ohne jemanden zu beleidi- gen, im Saale auf und nieder, ſtehen nur ſelten ſtille, und ſuchen dann durch gleichfoͤr- mige, aber aͤuſſerſt ausdrucksvolle Pantomime ihren Schmerz, ihren Kummer auszudruͤcken. Wenn die Uhr im Saale Zehne ſchlaͤgt, ſo
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ſer ſeltnen Freunde irgend eine Empfindung,
Gefuͤhl oder Stellung bemerkt, welche der an-
dere nicht zugleich, ohne ihn anzublicken, nach-
ahmte. Sie gleichen vollkommen den fremden
Voͤgeln, welche man die Unzertrennlichen
nennt, weil ſie ſtets nebeneinander ſitzen, mit
einander freſſen und trinken.
Einſt wagte ich's, ſie zu trennen, aber
beide raßten ſchrecklich, und ſanken einander
wonnetrunken in die Arme, wie ich ſie wieder
zuſammenfuͤhrte. Merkwuͤrdig, aber durch die
ſorgfaͤltigſte Beobachtung iſt es uͤberdies erwie-
ſen, daß ſie nie ein Wort mit einander, oder
mit irgend einem Menſchen ſprachen. Sie ge-
hen meiſtens ſtill, ohne jemanden zu beleidi-
gen, im Saale auf und nieder, ſtehen nur
ſelten ſtille, und ſuchen dann durch gleichfoͤr-
mige, aber aͤuſſerſt ausdrucksvolle Pantomime
ihren Schmerz, ihren Kummer auszudruͤcken.
Wenn die Uhr im Saale Zehne ſchlaͤgt, ſo
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 3. Leipzig, 1796, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796/232>, abgerufen am 24.11.2024.
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