Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 3. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Mutter (führt sie nach dem Gar-
ten zurück, den Brief öfnend). Höre, und
staune mit mir:

"Theures Weib! Gieb dem unglücklichen
Jüngling, der unserm einzigen Kinde zwei-
mal das Leben rettete, den Beutel mit Gold,
welchen du rechts in meiner Schatulle findest,
rathe ihm zur schnellen, eiligen Flucht aus
unserm Lande, aus Deutschlands Gränzen.
Ich bin ihm das Leben meines Kindes schul-
dig, ich halte es für Pflicht das seinige zu
retten, ohne zu überlegen: ob ich recht
handle, wenn ich einen überwiesnen Mör-
der den Armen der suchenden Gerechtig-
keit entreisse? Ich wollte sein Glück gründen,
und hab's ohne Verschulden ganz vernichtet.
Er schmachtete schon zwei Monden lang im
Gefängnisse, er ist durch Zeugen überwiesen,
daß er mit seiner Stiefmutter im vertrauten
Umgange lebte, mit ihr zweimal den Vater

Die Mutter (fuͤhrt ſie nach dem Gar-
ten zuruͤck, den Brief oͤfnend). Hoͤre, und
ſtaune mit mir:

„Theures Weib! Gieb dem ungluͤcklichen
Juͤngling, der unſerm einzigen Kinde zwei-
mal das Leben rettete, den Beutel mit Gold,
welchen du rechts in meiner Schatulle findeſt,
rathe ihm zur ſchnellen, eiligen Flucht aus
unſerm Lande, aus Deutſchlands Graͤnzen.
Ich bin ihm das Leben meines Kindes ſchul-
dig, ich halte es fuͤr Pflicht das ſeinige zu
retten, ohne zu uͤberlegen: ob ich recht
handle, wenn ich einen uͤberwiesnen Moͤr-
der den Armen der ſuchenden Gerechtig-
keit entreiſſe? Ich wollte ſein Gluͤck gruͤnden,
und hab's ohne Verſchulden ganz vernichtet.
Er ſchmachtete ſchon zwei Monden lang im
Gefaͤngniſſe, er iſt durch Zeugen uͤberwieſen,
daß er mit ſeiner Stiefmutter im vertrauten
Umgange lebte, mit ihr zweimal den Vater

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0114" n="100"/>
        <p>Die <hi rendition="#g">Mutter</hi> (fu&#x0364;hrt &#x017F;ie nach dem Gar-<lb/>
ten zuru&#x0364;ck, den Brief o&#x0364;fnend). Ho&#x0364;re, und<lb/>
&#x017F;taune mit mir:</p><lb/>
        <p>&#x201E;Theures Weib! Gieb dem unglu&#x0364;cklichen<lb/>
Ju&#x0364;ngling, der un&#x017F;erm einzigen Kinde zwei-<lb/>
mal das Leben rettete, den Beutel mit Gold,<lb/>
welchen du rechts in meiner Schatulle finde&#x017F;t,<lb/>
rathe ihm zur &#x017F;chnellen, eiligen Flucht aus<lb/>
un&#x017F;erm Lande, aus Deut&#x017F;chlands Gra&#x0364;nzen.<lb/>
Ich bin ihm das Leben meines Kindes &#x017F;chul-<lb/>
dig, ich halte es fu&#x0364;r Pflicht das &#x017F;einige zu<lb/>
retten, ohne zu u&#x0364;berlegen: ob ich recht<lb/>
handle, wenn ich einen u&#x0364;berwiesnen Mo&#x0364;r-<lb/>
der den Armen der &#x017F;uchenden Gerechtig-<lb/>
keit entrei&#x017F;&#x017F;e? Ich wollte &#x017F;ein Glu&#x0364;ck gru&#x0364;nden,<lb/>
und hab's ohne Ver&#x017F;chulden ganz vernichtet.<lb/>
Er &#x017F;chmachtete &#x017F;chon zwei Monden lang im<lb/>
Gefa&#x0364;ngni&#x017F;&#x017F;e, er i&#x017F;t durch Zeugen u&#x0364;berwie&#x017F;en,<lb/>
daß er mit &#x017F;einer Stiefmutter im vertrauten<lb/>
Umgange lebte, mit ihr zweimal den Vater<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[100/0114] Die Mutter (fuͤhrt ſie nach dem Gar- ten zuruͤck, den Brief oͤfnend). Hoͤre, und ſtaune mit mir: „Theures Weib! Gieb dem ungluͤcklichen Juͤngling, der unſerm einzigen Kinde zwei- mal das Leben rettete, den Beutel mit Gold, welchen du rechts in meiner Schatulle findeſt, rathe ihm zur ſchnellen, eiligen Flucht aus unſerm Lande, aus Deutſchlands Graͤnzen. Ich bin ihm das Leben meines Kindes ſchul- dig, ich halte es fuͤr Pflicht das ſeinige zu retten, ohne zu uͤberlegen: ob ich recht handle, wenn ich einen uͤberwiesnen Moͤr- der den Armen der ſuchenden Gerechtig- keit entreiſſe? Ich wollte ſein Gluͤck gruͤnden, und hab's ohne Verſchulden ganz vernichtet. Er ſchmachtete ſchon zwei Monden lang im Gefaͤngniſſe, er iſt durch Zeugen uͤberwieſen, daß er mit ſeiner Stiefmutter im vertrauten Umgange lebte, mit ihr zweimal den Vater

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796/114
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 3. Leipzig, 1796, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796/114>, abgerufen am 21.11.2024.