Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite
gemergelten Körper. Wilhelmine ward mit allen
ihren Kindern ein Raub derselben, nur Franz ge-
nas, weil endlich doch das allzugräßliche Elend
einige Herzen der Dorfbewohner rührte, welche
ihn, als er auch schon mit dem Tode rang, lab-
ten und zum Leben erweckten.

Kummer und Elend hatten seine Liebe zu Wil-
helminen nicht gemindert, er liebte sie noch mit
gleicher Zärtlichkeit; ihr bittrer, schrecklicher Tod,
ihr Aechzen nach Hülfe raubte ihm den Verstand,
er ward mit ihrer Leiche zu Grabe getragen,
und kehrte nie mehr zurück.

Als das angenehme, fruchtbare Frühjahr die
Hofnung zur reichsten Ernde stärkte, und alles
Herzen aufs neue Freude zu fühlen begannen,
war Er der Einzige, welcher noch innig trauerte;
er sprach anfangs selten ein Wort, gieng Ge-
dankenlos umher, arbeitete, bettelte nicht, und
schien es ganz der Vorsehung zu überlassen, ob
sie mitleidige Herzen wecken werde, welche ihm
ungebeten einige Nahrung reichen würden? Er
genoß dann nie alles, was man ihm gab, und
hob den Ueberrest sorgfältig auf. Die schreckliche
Wirkung der Hungersnoth hatte seinen Verstand
zerrüttet; die Ueberzeugung, daß nur äußerste
Sparsamkeit ihn dafür schützen könne, hatte die
Idee in ihm erregt, daß er alles Brauchbare
sammeln müsse, sein Wahnsinn beschäftigte ihn
die übrige Lebenszeit bloß mit diesem einzigen,
anhaltenden Gedanken.

gemergelten Koͤrper. Wilhelmine ward mit allen
ihren Kindern ein Raub derſelben, nur Franz ge-
nas, weil endlich doch das allzugraͤßliche Elend
einige Herzen der Dorfbewohner ruͤhrte, welche
ihn, als er auch ſchon mit dem Tode rang, lab-
ten und zum Leben erweckten.

Kummer und Elend hatten ſeine Liebe zu Wil-
helminen nicht gemindert, er liebte ſie noch mit
gleicher Zaͤrtlichkeit; ihr bittrer, ſchrecklicher Tod,
ihr Aechzen nach Huͤlfe raubte ihm den Verſtand,
er ward mit ihrer Leiche zu Grabe getragen,
und kehrte nie mehr zuruͤck.

Als das angenehme, fruchtbare Fruͤhjahr die
Hofnung zur reichſten Ernde ſtaͤrkte, und alles
Herzen aufs neue Freude zu fuͤhlen begannen,
war Er der Einzige, welcher noch innig trauerte;
er ſprach anfangs ſelten ein Wort, gieng Ge-
dankenlos umher, arbeitete, bettelte nicht, und
ſchien es ganz der Vorſehung zu uͤberlaſſen, ob
ſie mitleidige Herzen wecken werde, welche ihm
ungebeten einige Nahrung reichen wuͤrden? Er
genoß dann nie alles, was man ihm gab, und
hob den Ueberreſt ſorgfaͤltig auf. Die ſchreckliche
Wirkung der Hungersnoth hatte ſeinen Verſtand
zerruͤttet; die Ueberzeugung, daß nur aͤußerſte
Sparſamkeit ihn dafuͤr ſchuͤtzen koͤnne, hatte die
Idee in ihm erregt, daß er alles Brauchbare
ſammeln muͤſſe, ſein Wahnſinn beſchaͤftigte ihn
die uͤbrige Lebenszeit bloß mit dieſem einzigen,
anhaltenden Gedanken.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <sp who="#WILH">
          <p><pb facs="#f0099" n="91"/>
gemergelten Ko&#x0364;rper. Wilhelmine ward mit allen<lb/>
ihren Kindern ein Raub der&#x017F;elben, nur Franz ge-<lb/>
nas, weil endlich doch das allzugra&#x0364;ßliche Elend<lb/>
einige Herzen der Dorfbewohner ru&#x0364;hrte, welche<lb/>
ihn, als er auch &#x017F;chon mit dem Tode rang, lab-<lb/>
ten und zum Leben erweckten.</p><lb/>
          <p>Kummer und Elend hatten &#x017F;eine Liebe zu Wil-<lb/>
helminen nicht gemindert, er liebte &#x017F;ie noch mit<lb/>
gleicher Za&#x0364;rtlichkeit; ihr bittrer, &#x017F;chrecklicher Tod,<lb/>
ihr Aechzen nach Hu&#x0364;lfe raubte ihm den Ver&#x017F;tand,<lb/>
er ward mit ihrer Leiche zu Grabe getragen,<lb/>
und kehrte nie mehr zuru&#x0364;ck.</p><lb/>
          <p>Als das angenehme, fruchtbare Fru&#x0364;hjahr die<lb/>
Hofnung zur reich&#x017F;ten Ernde &#x017F;ta&#x0364;rkte, und alles<lb/>
Herzen aufs neue Freude zu fu&#x0364;hlen begannen,<lb/>
war Er der Einzige, welcher noch innig trauerte;<lb/>
er &#x017F;prach anfangs &#x017F;elten ein Wort, gieng Ge-<lb/>
dankenlos umher, arbeitete, bettelte nicht, und<lb/>
&#x017F;chien es ganz der Vor&#x017F;ehung zu u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;en, ob<lb/>
&#x017F;ie mitleidige Herzen wecken werde, welche ihm<lb/>
ungebeten einige Nahrung reichen wu&#x0364;rden? Er<lb/>
genoß dann nie alles, was man ihm gab, und<lb/>
hob den Ueberre&#x017F;t &#x017F;orgfa&#x0364;ltig auf. Die &#x017F;chreckliche<lb/>
Wirkung der Hungersnoth hatte &#x017F;einen Ver&#x017F;tand<lb/>
zerru&#x0364;ttet; die Ueberzeugung, daß nur a&#x0364;ußer&#x017F;te<lb/>
Spar&#x017F;amkeit ihn dafu&#x0364;r &#x017F;chu&#x0364;tzen ko&#x0364;nne, hatte die<lb/>
Idee in ihm erregt, daß er alles Brauchbare<lb/>
&#x017F;ammeln mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, &#x017F;ein Wahn&#x017F;inn be&#x017F;cha&#x0364;ftigte ihn<lb/>
die u&#x0364;brige Lebenszeit bloß mit die&#x017F;em einzigen,<lb/>
anhaltenden Gedanken.</p><lb/>
        </sp>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[91/0099] gemergelten Koͤrper. Wilhelmine ward mit allen ihren Kindern ein Raub derſelben, nur Franz ge- nas, weil endlich doch das allzugraͤßliche Elend einige Herzen der Dorfbewohner ruͤhrte, welche ihn, als er auch ſchon mit dem Tode rang, lab- ten und zum Leben erweckten. Kummer und Elend hatten ſeine Liebe zu Wil- helminen nicht gemindert, er liebte ſie noch mit gleicher Zaͤrtlichkeit; ihr bittrer, ſchrecklicher Tod, ihr Aechzen nach Huͤlfe raubte ihm den Verſtand, er ward mit ihrer Leiche zu Grabe getragen, und kehrte nie mehr zuruͤck. Als das angenehme, fruchtbare Fruͤhjahr die Hofnung zur reichſten Ernde ſtaͤrkte, und alles Herzen aufs neue Freude zu fuͤhlen begannen, war Er der Einzige, welcher noch innig trauerte; er ſprach anfangs ſelten ein Wort, gieng Ge- dankenlos umher, arbeitete, bettelte nicht, und ſchien es ganz der Vorſehung zu uͤberlaſſen, ob ſie mitleidige Herzen wecken werde, welche ihm ungebeten einige Nahrung reichen wuͤrden? Er genoß dann nie alles, was man ihm gab, und hob den Ueberreſt ſorgfaͤltig auf. Die ſchreckliche Wirkung der Hungersnoth hatte ſeinen Verſtand zerruͤttet; die Ueberzeugung, daß nur aͤußerſte Sparſamkeit ihn dafuͤr ſchuͤtzen koͤnne, hatte die Idee in ihm erregt, daß er alles Brauchbare ſammeln muͤſſe, ſein Wahnſinn beſchaͤftigte ihn die uͤbrige Lebenszeit bloß mit dieſem einzigen, anhaltenden Gedanken.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/99
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/99>, abgerufen am 07.05.2024.