Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.
Wilhelmine immer in Gesellschaft ihres Lehrmei- sters erschien, weil sie ihn stets durch ihr reizen- des Spiel auf dem Flügel zu erheitern suchte, und dann allemal des erstern Hülfe nöthig hatte. Schon lange vorher hatte der gute Vater sei- ner geliebten Tochter aufs heiligste versprochen, daß er sie zu keiner Heirath bereden, vielweniger zwingen wolle. Er billigte sogar Wilhelminens Mißtrauen gegen alle ihre Freier, welche sich oft in großer Anzahl meldeten, er verdachte es ihr nicht, wenn sie behauptete, daß man nur Herr ihres reichen Erdes zu werden suche, und ihr sol- ches durch Untreue und Gleichgültigkeit verbittern werde. Er liebte sein Kind zärtlich, und überließ es ganz ihrem Willen: Ob sie einsam ihre Tage beschließen, oder einst doch noch den seltenen fin- den werde, mit dem sie glücklich zu leben hoffe. Daß Wilhelmine jetzt mehr als je in Gegenwart des Vaters an der Möglichkeit zweifelte, ist leicht zu vermuthen, weil sie allzugut wußte, daß er ihre Liebe zu dem armen Franz nicht billigen könne, und ihr Herz doch keiner andern fähig war. Zeit und Gelegenheit ist die größte Kuplerin aller Verbrechen, aller Laster. Durch ihre Hülfe wird der Wunsch zum Vorsatze, der Vorsatz zur That. Sie erzieht Diebe und Mörder in ihrem erwärmenden Schoose, sie weckt Liebe im Herzen des schuldlosen Jünglings, sie lockt und reizt seine
Wilhelmine immer in Geſellſchaft ihres Lehrmei- ſters erſchien, weil ſie ihn ſtets durch ihr reizen- des Spiel auf dem Fluͤgel zu erheitern ſuchte, und dann allemal des erſtern Huͤlfe noͤthig hatte. Schon lange vorher hatte der gute Vater ſei- ner geliebten Tochter aufs heiligſte verſprochen, daß er ſie zu keiner Heirath bereden, vielweniger zwingen wolle. Er billigte ſogar Wilhelminens Mißtrauen gegen alle ihre Freier, welche ſich oft in großer Anzahl meldeten, er verdachte es ihr nicht, wenn ſie behauptete, daß man nur Herr ihres reichen Erdes zu werden ſuche, und ihr ſol- ches durch Untreue und Gleichguͤltigkeit verbittern werde. Er liebte ſein Kind zaͤrtlich, und uͤberließ es ganz ihrem Willen: Ob ſie einſam ihre Tage beſchließen, oder einſt doch noch den ſeltenen fin- den werde, mit dem ſie gluͤcklich zu leben hoffe. Daß Wilhelmine jetzt mehr als je in Gegenwart des Vaters an der Moͤglichkeit zweifelte, iſt leicht zu vermuthen, weil ſie allzugut wußte, daß er ihre Liebe zu dem armen Franz nicht billigen koͤnne, und ihr Herz doch keiner andern faͤhig war. Zeit und Gelegenheit iſt die groͤßte Kuplerin aller Verbrechen, aller Laſter. Durch ihre Huͤlfe wird der Wunſch zum Vorſatze, der Vorſatz zur That. Sie erzieht Diebe und Moͤrder in ihrem erwaͤrmenden Schooſe, ſie weckt Liebe im Herzen des ſchuldloſen Juͤnglings, ſie lockt und reizt ſeine <TEI> <text> <body> <div n="1"> <sp who="#WILH"> <p><pb facs="#f0084" n="76"/> Wilhelmine immer in Geſellſchaft ihres Lehrmei-<lb/> ſters erſchien, weil ſie ihn ſtets durch ihr reizen-<lb/> des Spiel auf dem Fluͤgel zu erheitern ſuchte,<lb/> und dann allemal des erſtern Huͤlfe noͤthig<lb/> hatte.</p><lb/> <p>Schon lange vorher hatte der gute Vater ſei-<lb/> ner geliebten Tochter aufs heiligſte verſprochen,<lb/> daß er ſie zu keiner Heirath bereden, vielweniger<lb/> zwingen wolle. Er billigte ſogar Wilhelminens<lb/> Mißtrauen gegen alle ihre Freier, welche ſich oft<lb/> in großer Anzahl meldeten, er verdachte es ihr<lb/> nicht, wenn ſie behauptete, daß man nur Herr<lb/> ihres reichen Erdes zu werden ſuche, und ihr ſol-<lb/> ches durch Untreue und Gleichguͤltigkeit verbittern<lb/> werde. Er liebte ſein Kind zaͤrtlich, und uͤberließ<lb/> es ganz ihrem Willen: Ob ſie einſam ihre Tage<lb/> beſchließen, oder einſt doch noch den ſeltenen fin-<lb/> den werde, mit dem ſie gluͤcklich zu leben hoffe.<lb/> Daß Wilhelmine jetzt mehr als je in Gegenwart<lb/> des Vaters an der Moͤglichkeit zweifelte, iſt leicht<lb/> zu vermuthen, weil ſie allzugut wußte, daß er<lb/> ihre Liebe zu dem armen Franz nicht billigen<lb/> koͤnne, und ihr Herz doch keiner andern faͤhig<lb/> war.</p><lb/> <p>Zeit und Gelegenheit iſt die groͤßte Kuplerin<lb/> aller Verbrechen, aller Laſter. Durch ihre Huͤlfe<lb/> wird der Wunſch zum Vorſatze, der Vorſatz zur<lb/> That. Sie erzieht Diebe und Moͤrder in ihrem<lb/> erwaͤrmenden Schooſe, ſie weckt Liebe im Herzen<lb/> des ſchuldloſen Juͤnglings, ſie lockt und reizt ſeine<lb/></p> </sp> </div> </body> </text> </TEI> [76/0084]
Wilhelmine immer in Geſellſchaft ihres Lehrmei-
ſters erſchien, weil ſie ihn ſtets durch ihr reizen-
des Spiel auf dem Fluͤgel zu erheitern ſuchte,
und dann allemal des erſtern Huͤlfe noͤthig
hatte.
Schon lange vorher hatte der gute Vater ſei-
ner geliebten Tochter aufs heiligſte verſprochen,
daß er ſie zu keiner Heirath bereden, vielweniger
zwingen wolle. Er billigte ſogar Wilhelminens
Mißtrauen gegen alle ihre Freier, welche ſich oft
in großer Anzahl meldeten, er verdachte es ihr
nicht, wenn ſie behauptete, daß man nur Herr
ihres reichen Erdes zu werden ſuche, und ihr ſol-
ches durch Untreue und Gleichguͤltigkeit verbittern
werde. Er liebte ſein Kind zaͤrtlich, und uͤberließ
es ganz ihrem Willen: Ob ſie einſam ihre Tage
beſchließen, oder einſt doch noch den ſeltenen fin-
den werde, mit dem ſie gluͤcklich zu leben hoffe.
Daß Wilhelmine jetzt mehr als je in Gegenwart
des Vaters an der Moͤglichkeit zweifelte, iſt leicht
zu vermuthen, weil ſie allzugut wußte, daß er
ihre Liebe zu dem armen Franz nicht billigen
koͤnne, und ihr Herz doch keiner andern faͤhig
war.
Zeit und Gelegenheit iſt die groͤßte Kuplerin
aller Verbrechen, aller Laſter. Durch ihre Huͤlfe
wird der Wunſch zum Vorſatze, der Vorſatz zur
That. Sie erzieht Diebe und Moͤrder in ihrem
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des ſchuldloſen Juͤnglings, ſie lockt und reizt ſeine
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