Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Ewige hörte das fromme Gelübde, segnete
es kräftig, und die wunderbare Rettung gelang
vollkommen. Ungeachtet die Mutter, gemäß ihrer
Aussage, schon um Mitternacht des neugebohrnen
Knabens Mund mit Stroh verstopft hatte, un-
geachtet dieser von früh sieben Uhr, bis Nachmit-
tags um drei Uhr nur in einer leinenen Schürze
eingewickelt, bei der stärksten Kälte in einem hoh-
len Baume verborgen lag, so ruhte er doch schon
am andern Tage froh und munter an der Brust
seiner Amme, welche sein neuer Vater und Wohl-
thäter für ihn besorgt hatte.

Er erhielt in der Taufe den Namen Konrad,
und durchlebte die ersten Jahre der Kindheit in
vollkommner Gesundheit. Ein noch lebender Au-
genzeuge versichert mich, daß er ein schöner und
munterer Knabe, die einzige Freude seiner Pfleg-
eltern war, die ihn zärtlich liebten, und alles
anwandten, um sein Herz gut und edel zu bil-
den. Schon im sechsten Jahre seines Alters konn-
te er lesen und schreiben, und verrieth in allen
seinen Handlungen die deutlichen Spuren eines
großen Genies.

Er war bis in sein neuntes Jahr anhaltend,
oft ausgelassen munter und fröhlich, aber eine
tiefe, nie mehr ganz weichende Melancholie be-
mächtigte sich seines Herzens, als er um diese
Zeit durch Zufall erfuhr, daß der edle Forstmei-
ster nicht sein wahrer Vater sei, daß seine Mut-
ter im Zuchthause schmachte, sein wirklicher Va-

Der Ewige hoͤrte das fromme Geluͤbde, ſegnete
es kraͤftig, und die wunderbare Rettung gelang
vollkommen. Ungeachtet die Mutter, gemaͤß ihrer
Ausſage, ſchon um Mitternacht des neugebohrnen
Knabens Mund mit Stroh verſtopft hatte, un-
geachtet dieſer von fruͤh ſieben Uhr, bis Nachmit-
tags um drei Uhr nur in einer leinenen Schuͤrze
eingewickelt, bei der ſtaͤrkſten Kaͤlte in einem hoh-
len Baume verborgen lag, ſo ruhte er doch ſchon
am andern Tage froh und munter an der Bruſt
ſeiner Amme, welche ſein neuer Vater und Wohl-
thaͤter fuͤr ihn beſorgt hatte.

Er erhielt in der Taufe den Namen Konrad,
und durchlebte die erſten Jahre der Kindheit in
vollkommner Geſundheit. Ein noch lebender Au-
genzeuge verſichert mich, daß er ein ſchoͤner und
munterer Knabe, die einzige Freude ſeiner Pfleg-
eltern war, die ihn zaͤrtlich liebten, und alles
anwandten, um ſein Herz gut und edel zu bil-
den. Schon im ſechſten Jahre ſeines Alters konn-
te er leſen und ſchreiben, und verrieth in allen
ſeinen Handlungen die deutlichen Spuren eines
großen Genies.

Er war bis in ſein neuntes Jahr anhaltend,
oft ausgelaſſen munter und froͤhlich, aber eine
tiefe, nie mehr ganz weichende Melancholie be-
maͤchtigte ſich ſeines Herzens, als er um dieſe
Zeit durch Zufall erfuhr, daß der edle Forſtmei-
ſter nicht ſein wahrer Vater ſei, daß ſeine Mut-
ter im Zuchthauſe ſchmachte, ſein wirklicher Va-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0106" n="98"/>
Der Ewige ho&#x0364;rte das fromme Gelu&#x0364;bde, &#x017F;egnete<lb/>
es kra&#x0364;ftig, und die wunderbare Rettung gelang<lb/>
vollkommen. Ungeachtet die Mutter, gema&#x0364;ß ihrer<lb/>
Aus&#x017F;age, &#x017F;chon um Mitternacht des neugebohrnen<lb/>
Knabens Mund mit Stroh ver&#x017F;topft hatte, un-<lb/>
geachtet die&#x017F;er von fru&#x0364;h &#x017F;ieben Uhr, bis Nachmit-<lb/>
tags um drei Uhr nur in einer leinenen Schu&#x0364;rze<lb/>
eingewickelt, bei der &#x017F;ta&#x0364;rk&#x017F;ten Ka&#x0364;lte in einem hoh-<lb/>
len Baume verborgen lag, &#x017F;o ruhte er doch &#x017F;chon<lb/>
am andern Tage froh und munter an der Bru&#x017F;t<lb/>
&#x017F;einer Amme, welche &#x017F;ein neuer Vater und Wohl-<lb/>
tha&#x0364;ter fu&#x0364;r ihn be&#x017F;orgt hatte.</p><lb/>
        <p>Er erhielt in der Taufe den Namen Konrad,<lb/>
und durchlebte die er&#x017F;ten Jahre der Kindheit in<lb/>
vollkommner Ge&#x017F;undheit. Ein noch lebender Au-<lb/>
genzeuge ver&#x017F;ichert mich, daß er ein &#x017F;cho&#x0364;ner und<lb/>
munterer Knabe, die einzige Freude &#x017F;einer Pfleg-<lb/>
eltern war, die ihn za&#x0364;rtlich liebten, und alles<lb/>
anwandten, um &#x017F;ein Herz gut und edel zu bil-<lb/>
den. Schon im &#x017F;ech&#x017F;ten Jahre &#x017F;eines Alters konn-<lb/>
te er le&#x017F;en und &#x017F;chreiben, und verrieth in allen<lb/>
&#x017F;einen Handlungen die deutlichen Spuren eines<lb/>
großen Genies.</p><lb/>
        <p>Er war bis in &#x017F;ein neuntes Jahr anhaltend,<lb/>
oft ausgela&#x017F;&#x017F;en munter und fro&#x0364;hlich, aber eine<lb/>
tiefe, nie mehr ganz weichende Melancholie be-<lb/>
ma&#x0364;chtigte &#x017F;ich &#x017F;eines Herzens, als er um die&#x017F;e<lb/>
Zeit durch Zufall erfuhr, daß der edle For&#x017F;tmei-<lb/>
&#x017F;ter nicht &#x017F;ein wahrer Vater &#x017F;ei, daß &#x017F;eine Mut-<lb/>
ter im Zuchthau&#x017F;e &#x017F;chmachte, &#x017F;ein wirklicher Va-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[98/0106] Der Ewige hoͤrte das fromme Geluͤbde, ſegnete es kraͤftig, und die wunderbare Rettung gelang vollkommen. Ungeachtet die Mutter, gemaͤß ihrer Ausſage, ſchon um Mitternacht des neugebohrnen Knabens Mund mit Stroh verſtopft hatte, un- geachtet dieſer von fruͤh ſieben Uhr, bis Nachmit- tags um drei Uhr nur in einer leinenen Schuͤrze eingewickelt, bei der ſtaͤrkſten Kaͤlte in einem hoh- len Baume verborgen lag, ſo ruhte er doch ſchon am andern Tage froh und munter an der Bruſt ſeiner Amme, welche ſein neuer Vater und Wohl- thaͤter fuͤr ihn beſorgt hatte. Er erhielt in der Taufe den Namen Konrad, und durchlebte die erſten Jahre der Kindheit in vollkommner Geſundheit. Ein noch lebender Au- genzeuge verſichert mich, daß er ein ſchoͤner und munterer Knabe, die einzige Freude ſeiner Pfleg- eltern war, die ihn zaͤrtlich liebten, und alles anwandten, um ſein Herz gut und edel zu bil- den. Schon im ſechſten Jahre ſeines Alters konn- te er leſen und ſchreiben, und verrieth in allen ſeinen Handlungen die deutlichen Spuren eines großen Genies. Er war bis in ſein neuntes Jahr anhaltend, oft ausgelaſſen munter und froͤhlich, aber eine tiefe, nie mehr ganz weichende Melancholie be- maͤchtigte ſich ſeines Herzens, als er um dieſe Zeit durch Zufall erfuhr, daß der edle Forſtmei- ſter nicht ſein wahrer Vater ſei, daß ſeine Mut- ter im Zuchthauſe ſchmachte, ſein wirklicher Va-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/106
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/106>, abgerufen am 22.11.2024.