ertragen. Wilhelm that, was er vermochte, er schwur ihr ewige Treue, er gelobte ihr früh oder spät seine Hand zum Ersatz für ihr künftiges Lei- den. Sie wird für dich, sprach er, dann fleißig arbeiten, sie wird dich bis in den Tod redlich und treu ernähren! Auch versprach er, ihr jeden Monat wenigstens einmal zu schreiben, und den Brief an den alten Schulmeister zu addressiren. Diese Trostgründe stärkten freilich Lottchens Muth auf einige Augenblicke, aber wenn sie sich wieder die Gefahren dachte, in welchen ihr Geliebter nun jeden Tag schweben würde, wenn sie über ihm das feindliche Schwert erblickte, oder ihn, von einer feindlichen Kugel getödet, vom Pferde sin- ken sah, da schwand dieser Muth aufs neue. Erin- nerte sie sich nun vollends ihres schrecklichen Zu- standes, erblickte sie sich vom alten Vater ver- flucht, von ihren Schwestern verachtet, von der ganzen Gemeinde verspottet in ihrer einsamen Kammer, so war sie der Verzweiflung nahe. Als der Tag anbrach, und Wilhelm nun scheiden mußte, da war sie unfähig, ihn bis an die Thü- re zu begleiten, sie warf sich wüthend auf ihr Bette, verstopfte sich mit den Kissen den Mund, damit das Gesinde ihr Schluchzen nicht höre, nicht Zeuge ihrer Verzweiflung werde.
Der alte Pfarrer, welcher nichts arges ahnde- te, und Wilhelmen wirklich als einen Sohn ge-
liebt
ertragen. Wilhelm that, was er vermochte, er ſchwur ihr ewige Treue, er gelobte ihr fruͤh oder ſpaͤt ſeine Hand zum Erſatz fuͤr ihr kuͤnftiges Lei- den. Sie wird fuͤr dich, ſprach er, dann fleißig arbeiten, ſie wird dich bis in den Tod redlich und treu ernaͤhren! Auch verſprach er, ihr jeden Monat wenigſtens einmal zu ſchreiben, und den Brief an den alten Schulmeiſter zu addreſſiren. Dieſe Troſtgruͤnde ſtaͤrkten freilich Lottchens Muth auf einige Augenblicke, aber wenn ſie ſich wieder die Gefahren dachte, in welchen ihr Geliebter nun jeden Tag ſchweben wuͤrde, wenn ſie uͤber ihm das feindliche Schwert erblickte, oder ihn, von einer feindlichen Kugel getoͤdet, vom Pferde ſin- ken ſah, da ſchwand dieſer Muth aufs neue. Erin- nerte ſie ſich nun vollends ihres ſchrecklichen Zu- ſtandes, erblickte ſie ſich vom alten Vater ver- flucht, von ihren Schweſtern verachtet, von der ganzen Gemeinde verſpottet in ihrer einſamen Kammer, ſo war ſie der Verzweiflung nahe. Als der Tag anbrach, und Wilhelm nun ſcheiden mußte, da war ſie unfaͤhig, ihn bis an die Thuͤ- re zu begleiten, ſie warf ſich wuͤthend auf ihr Bette, verſtopfte ſich mit den Kiſſen den Mund, damit das Geſinde ihr Schluchzen nicht hoͤre, nicht Zeuge ihrer Verzweiflung werde.
Der alte Pfarrer, welcher nichts arges ahnde- te, und Wilhelmen wirklich als einen Sohn ge-
liebt
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0078"n="64"/>
ertragen. Wilhelm that, was er vermochte, er<lb/>ſchwur ihr ewige Treue, er gelobte ihr fruͤh oder<lb/>ſpaͤt ſeine Hand zum Erſatz fuͤr ihr kuͤnftiges Lei-<lb/>
den. Sie wird fuͤr dich, ſprach er, dann fleißig<lb/>
arbeiten, ſie wird dich bis in den Tod redlich<lb/>
und treu ernaͤhren! Auch verſprach er, ihr jeden<lb/>
Monat wenigſtens einmal zu ſchreiben, und den<lb/>
Brief an den alten Schulmeiſter zu addreſſiren.<lb/>
Dieſe Troſtgruͤnde ſtaͤrkten freilich Lottchens Muth<lb/>
auf einige Augenblicke, aber wenn ſie ſich wieder<lb/>
die Gefahren dachte, in welchen ihr Geliebter nun<lb/>
jeden Tag ſchweben wuͤrde, wenn ſie uͤber ihm<lb/>
das feindliche Schwert erblickte, oder ihn, von<lb/>
einer feindlichen Kugel getoͤdet, vom Pferde ſin-<lb/>
ken ſah, da ſchwand dieſer Muth aufs neue. Erin-<lb/>
nerte ſie ſich nun vollends ihres ſchrecklichen Zu-<lb/>ſtandes, erblickte ſie ſich vom alten Vater ver-<lb/>
flucht, von ihren Schweſtern verachtet, von der<lb/>
ganzen Gemeinde verſpottet in ihrer einſamen<lb/>
Kammer, ſo war ſie der Verzweiflung nahe.<lb/>
Als der Tag anbrach, und Wilhelm nun ſcheiden<lb/>
mußte, da war ſie unfaͤhig, ihn bis an die Thuͤ-<lb/>
re zu begleiten, ſie warf ſich wuͤthend auf ihr<lb/>
Bette, verſtopfte ſich mit den Kiſſen den Mund,<lb/>
damit das Geſinde ihr Schluchzen nicht hoͤre,<lb/>
nicht Zeuge ihrer Verzweiflung werde.</p><lb/><p>Der alte Pfarrer, welcher nichts arges ahnde-<lb/>
te, und Wilhelmen wirklich als einen Sohn ge-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">liebt</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[64/0078]
ertragen. Wilhelm that, was er vermochte, er
ſchwur ihr ewige Treue, er gelobte ihr fruͤh oder
ſpaͤt ſeine Hand zum Erſatz fuͤr ihr kuͤnftiges Lei-
den. Sie wird fuͤr dich, ſprach er, dann fleißig
arbeiten, ſie wird dich bis in den Tod redlich
und treu ernaͤhren! Auch verſprach er, ihr jeden
Monat wenigſtens einmal zu ſchreiben, und den
Brief an den alten Schulmeiſter zu addreſſiren.
Dieſe Troſtgruͤnde ſtaͤrkten freilich Lottchens Muth
auf einige Augenblicke, aber wenn ſie ſich wieder
die Gefahren dachte, in welchen ihr Geliebter nun
jeden Tag ſchweben wuͤrde, wenn ſie uͤber ihm
das feindliche Schwert erblickte, oder ihn, von
einer feindlichen Kugel getoͤdet, vom Pferde ſin-
ken ſah, da ſchwand dieſer Muth aufs neue. Erin-
nerte ſie ſich nun vollends ihres ſchrecklichen Zu-
ſtandes, erblickte ſie ſich vom alten Vater ver-
flucht, von ihren Schweſtern verachtet, von der
ganzen Gemeinde verſpottet in ihrer einſamen
Kammer, ſo war ſie der Verzweiflung nahe.
Als der Tag anbrach, und Wilhelm nun ſcheiden
mußte, da war ſie unfaͤhig, ihn bis an die Thuͤ-
re zu begleiten, ſie warf ſich wuͤthend auf ihr
Bette, verſtopfte ſich mit den Kiſſen den Mund,
damit das Geſinde ihr Schluchzen nicht hoͤre,
nicht Zeuge ihrer Verzweiflung werde.
Der alte Pfarrer, welcher nichts arges ahnde-
te, und Wilhelmen wirklich als einen Sohn ge-
liebt
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/78>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.