Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

der Briefe, Wilhelms Regiment, das bei jeder
Gelegenheit sehr brav that, stand immer im An-
gesichte des Feindes, und wenn die Antwort am
bestimmten Orte auch eintraf, so war oft Wil-
helm meilenweit davon entfernt.

Endlich erhörte Gott das Flehen der Millionen
seiner Gläubigen und schenkte Deutschland den
Frieden. Wilhelm schrieb, daß er als Wacht-
meister seinen Abschied erhalten, sich ein kleines
Kapital erworben, und nun komme, um sein Lott-
chen zu heirathen, oder auf ihrem Grabe zu ster-
ben. Eben gieng der Pfarrer des Orts mit Lott-
chen und ihrer kleinen Wilhelmine in seinem Gar-
ten spazieren, als ein junger schöner Mann in
hastiger Eile die Gartenthüre öffnete, und mit off-
nen Armen auf Lottchen zueilte. Es war Wil-
helm, Lottchen erkannte ihn sogleich, schrie fürch-
terlich um Hülfe, nahm ihr Kind auf den Arm
und entfloh in schnellster Eile. Wilhelm stand
angewurzelt am Boden, solch einen Empfang
hatte seine heiße Liebe sich nie gedacht, ihr
Grabhügel würde ihn nicht so sehr erschreckt,
nicht so aller Fassung beraubt haben. Dies hat-
te er längst vermuthet, aber jenes nie denken
können, nie denken wollen. Der Gedanke, daß
Lottchen verheirathet, und wahrscheinlich dies ihr
Mann sei, bemächtigte sich jetzt seiner Seele, und
nagte geierartig an seinem Herzen. Der Pfarrer,
welcher sich nun mit ihm in's Gespräch einließ,

der Briefe, Wilhelms Regiment, das bei jeder
Gelegenheit ſehr brav that, ſtand immer im An-
geſichte des Feindes, und wenn die Antwort am
beſtimmten Orte auch eintraf, ſo war oft Wil-
helm meilenweit davon entfernt.

Endlich erhoͤrte Gott das Flehen der Millionen
ſeiner Glaͤubigen und ſchenkte Deutſchland den
Frieden. Wilhelm ſchrieb, daß er als Wacht-
meiſter ſeinen Abſchied erhalten, ſich ein kleines
Kapital erworben, und nun komme, um ſein Lott-
chen zu heirathen, oder auf ihrem Grabe zu ſter-
ben. Eben gieng der Pfarrer des Orts mit Lott-
chen und ihrer kleinen Wilhelmine in ſeinem Gar-
ten ſpazieren, als ein junger ſchoͤner Mann in
haſtiger Eile die Gartenthuͤre oͤffnete, und mit off-
nen Armen auf Lottchen zueilte. Es war Wil-
helm, Lottchen erkannte ihn ſogleich, ſchrie fuͤrch-
terlich um Huͤlfe, nahm ihr Kind auf den Arm
und entfloh in ſchnellſter Eile. Wilhelm ſtand
angewurzelt am Boden, ſolch einen Empfang
hatte ſeine heiße Liebe ſich nie gedacht, ihr
Grabhuͤgel wuͤrde ihn nicht ſo ſehr erſchreckt,
nicht ſo aller Faſſung beraubt haben. Dies hat-
te er laͤngſt vermuthet, aber jenes nie denken
koͤnnen, nie denken wollen. Der Gedanke, daß
Lottchen verheirathet, und wahrſcheinlich dies ihr
Mann ſei, bemaͤchtigte ſich jetzt ſeiner Seele, und
nagte geierartig an ſeinem Herzen. Der Pfarrer,
welcher ſich nun mit ihm in's Geſpraͤch einließ,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0104" n="90"/>
der Briefe, Wilhelms Regiment, das                     bei jeder<lb/>
Gelegenheit &#x017F;ehr brav that, &#x017F;tand immer im An-<lb/>
ge&#x017F;ichte des                     Feindes, und wenn die Antwort am<lb/>
be&#x017F;timmten Orte auch eintraf, &#x017F;o war oft                     Wil-<lb/>
helm meilenweit davon entfernt.</p><lb/>
        <p>Endlich erho&#x0364;rte Gott das Flehen der Millionen<lb/>
&#x017F;einer Gla&#x0364;ubigen und &#x017F;chenkte                     Deut&#x017F;chland den<lb/>
Frieden. Wilhelm &#x017F;chrieb, daß er als Wacht-<lb/>
mei&#x017F;ter                     &#x017F;einen Ab&#x017F;chied erhalten, &#x017F;ich ein kleines<lb/>
Kapital erworben, und nun komme,                     um &#x017F;ein Lott-<lb/>
chen zu heirathen, oder auf ihrem Grabe zu &#x017F;ter-<lb/>
ben. Eben                     gieng der Pfarrer des Orts mit Lott-<lb/>
chen und ihrer kleinen Wilhelmine in                     &#x017F;einem Gar-<lb/>
ten &#x017F;pazieren, als ein junger &#x017F;cho&#x0364;ner Mann in<lb/>
ha&#x017F;tiger Eile                     die Gartenthu&#x0364;re o&#x0364;ffnete, und mit off-<lb/>
nen Armen auf Lottchen zueilte. Es                     war Wil-<lb/>
helm, Lottchen erkannte ihn &#x017F;ogleich, &#x017F;chrie fu&#x0364;rch-<lb/>
terlich um                     Hu&#x0364;lfe, nahm ihr Kind auf den Arm<lb/>
und entfloh in &#x017F;chnell&#x017F;ter Eile. Wilhelm                     &#x017F;tand<lb/>
angewurzelt am Boden, &#x017F;olch einen Empfang<lb/>
hatte &#x017F;eine heiße Liebe                     &#x017F;ich nie gedacht, ihr<lb/>
Grabhu&#x0364;gel wu&#x0364;rde ihn nicht &#x017F;o &#x017F;ehr                     er&#x017F;chreckt,<lb/>
nicht &#x017F;o aller Fa&#x017F;&#x017F;ung beraubt haben. Dies hat-<lb/>
te er                     la&#x0364;ng&#x017F;t vermuthet, aber jenes nie denken<lb/>
ko&#x0364;nnen, nie denken wollen. Der                     Gedanke, daß<lb/>
Lottchen verheirathet, und wahr&#x017F;cheinlich dies ihr<lb/>
Mann                     &#x017F;ei, bema&#x0364;chtigte &#x017F;ich jetzt &#x017F;einer Seele, und<lb/>
nagte geierartig an &#x017F;einem                     Herzen. Der Pfarrer,<lb/>
welcher &#x017F;ich nun mit ihm in's Ge&#x017F;pra&#x0364;ch                         einließ,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[90/0104] der Briefe, Wilhelms Regiment, das bei jeder Gelegenheit ſehr brav that, ſtand immer im An- geſichte des Feindes, und wenn die Antwort am beſtimmten Orte auch eintraf, ſo war oft Wil- helm meilenweit davon entfernt. Endlich erhoͤrte Gott das Flehen der Millionen ſeiner Glaͤubigen und ſchenkte Deutſchland den Frieden. Wilhelm ſchrieb, daß er als Wacht- meiſter ſeinen Abſchied erhalten, ſich ein kleines Kapital erworben, und nun komme, um ſein Lott- chen zu heirathen, oder auf ihrem Grabe zu ſter- ben. Eben gieng der Pfarrer des Orts mit Lott- chen und ihrer kleinen Wilhelmine in ſeinem Gar- ten ſpazieren, als ein junger ſchoͤner Mann in haſtiger Eile die Gartenthuͤre oͤffnete, und mit off- nen Armen auf Lottchen zueilte. Es war Wil- helm, Lottchen erkannte ihn ſogleich, ſchrie fuͤrch- terlich um Huͤlfe, nahm ihr Kind auf den Arm und entfloh in ſchnellſter Eile. Wilhelm ſtand angewurzelt am Boden, ſolch einen Empfang hatte ſeine heiße Liebe ſich nie gedacht, ihr Grabhuͤgel wuͤrde ihn nicht ſo ſehr erſchreckt, nicht ſo aller Faſſung beraubt haben. Dies hat- te er laͤngſt vermuthet, aber jenes nie denken koͤnnen, nie denken wollen. Der Gedanke, daß Lottchen verheirathet, und wahrſcheinlich dies ihr Mann ſei, bemaͤchtigte ſich jetzt ſeiner Seele, und nagte geierartig an ſeinem Herzen. Der Pfarrer, welcher ſich nun mit ihm in's Geſpraͤch einließ,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/104
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/104>, abgerufen am 24.11.2024.