heilbar, und Rettung für unmöglich. Das un- glückliche Lottchen, welches nun durch ihren Wahnsinn innere Zufriedenheit und Seelenruhe genoß, ward bald gesund, ihre Wangen rötheten sich auf's neue, sie war reizender und schöner als in den Tagen ihrer Unschuld. Sie liebte ihr Kind mit seltener Zärtlichkeit, sie wartete und pflegte es mit einer Sorgfalt, der keine andere Mutter fähig war. Oft wiegten es, ihrer Einbildung nach, die Engel, aber sie wich doch nie von sei- ner Wiege, und beobachtete stets die kleinste Be- wegung desselben. Ihre unnatürlichen Schwestern besuchten sie nie mehr, sie theilten die ganze Erb- schaft unter sich, und die redliche Gemeinde hin- derte es nicht, weil die Glieder derselben glaub- ten, daß eine Klage darüber der Reue ihres Ge- lübdes ähnlich sähe, durch welches sie sich ver- bunden hatten, Lottchen sammt ihrem Kinde zu ernähren. Aber der gewissenhafte Superintendent duldete dies Unrecht nicht, er vertrat die Verlaß- ne, die Gerechtigkeit entschied, und Lottchen er- hielt gleichen Antheil am Erbe des Vaters. Es ward den Vorstehern der großmüthigen Gemeinde zur Verwaltung übergeben, weil sie einstimmig erklärten, daß sie ihr einmal angenommenes Pfle- gekind nicht aus ihrer Mitte lassen wollten. Das ganze Erbtheil bestand in eilfhundert Thalern, sie legten diese auf sichere Zinsen, machten diese im- mer wieder zu Kapital, und ernährten Lottchen aus Eigenem, damit ihr unschuldiges Kind einst
heilbar, und Rettung fuͤr unmoͤglich. Das un- gluͤckliche Lottchen, welches nun durch ihren Wahnſinn innere Zufriedenheit und Seelenruhe genoß, ward bald geſund, ihre Wangen roͤtheten ſich auf's neue, ſie war reizender und ſchoͤner als in den Tagen ihrer Unſchuld. Sie liebte ihr Kind mit ſeltener Zaͤrtlichkeit, ſie wartete und pflegte es mit einer Sorgfalt, der keine andere Mutter faͤhig war. Oft wiegten es, ihrer Einbildung nach, die Engel, aber ſie wich doch nie von ſei- ner Wiege, und beobachtete ſtets die kleinſte Be- wegung deſſelben. Ihre unnatuͤrlichen Schweſtern beſuchten ſie nie mehr, ſie theilten die ganze Erb- ſchaft unter ſich, und die redliche Gemeinde hin- derte es nicht, weil die Glieder derſelben glaub- ten, daß eine Klage daruͤber der Reue ihres Ge- luͤbdes aͤhnlich ſaͤhe, durch welches ſie ſich ver- bunden hatten, Lottchen ſammt ihrem Kinde zu ernaͤhren. Aber der gewiſſenhafte Superintendent duldete dies Unrecht nicht, er vertrat die Verlaß- ne, die Gerechtigkeit entſchied, und Lottchen er- hielt gleichen Antheil am Erbe des Vaters. Es ward den Vorſtehern der großmuͤthigen Gemeinde zur Verwaltung uͤbergeben, weil ſie einſtimmig erklaͤrten, daß ſie ihr einmal angenommenes Pfle- gekind nicht aus ihrer Mitte laſſen wollten. Das ganze Erbtheil beſtand in eilfhundert Thalern, ſie legten dieſe auf ſichere Zinſen, machten dieſe im- mer wieder zu Kapital, und ernaͤhrten Lottchen aus Eigenem, damit ihr unſchuldiges Kind einſt
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heilbar, und Rettung fuͤr unmoͤglich. Das un-
gluͤckliche Lottchen, welches nun durch ihren
Wahnſinn innere Zufriedenheit und Seelenruhe
genoß, ward bald geſund, ihre Wangen roͤtheten
ſich auf's neue, ſie war reizender und ſchoͤner als
in den Tagen ihrer Unſchuld. Sie liebte ihr Kind
mit ſeltener Zaͤrtlichkeit, ſie wartete und pflegte
es mit einer Sorgfalt, der keine andere Mutter
faͤhig war. Oft wiegten es, ihrer Einbildung
nach, die Engel, aber ſie wich doch nie von ſei-
ner Wiege, und beobachtete ſtets die kleinſte Be-
wegung deſſelben. Ihre unnatuͤrlichen Schweſtern
beſuchten ſie nie mehr, ſie theilten die ganze Erb-
ſchaft unter ſich, und die redliche Gemeinde hin-
derte es nicht, weil die Glieder derſelben glaub-
ten, daß eine Klage daruͤber der Reue ihres Ge-
luͤbdes aͤhnlich ſaͤhe, durch welches ſie ſich ver-
bunden hatten, Lottchen ſammt ihrem Kinde zu
ernaͤhren. Aber der gewiſſenhafte Superintendent
duldete dies Unrecht nicht, er vertrat die Verlaß-
ne, die Gerechtigkeit entſchied, und Lottchen er-
hielt gleichen Antheil am Erbe des Vaters. Es
ward den Vorſtehern der großmuͤthigen Gemeinde
zur Verwaltung uͤbergeben, weil ſie einſtimmig
erklaͤrten, daß ſie ihr einmal angenommenes Pfle-
gekind nicht aus ihrer Mitte laſſen wollten. Das
ganze Erbtheil beſtand in eilfhundert Thalern, ſie
legten dieſe auf ſichere Zinſen, machten dieſe im-
mer wieder zu Kapital, und ernaͤhrten Lottchen
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/101>, abgerufen am 16.02.2025.
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