ersten Zeit einmal im Scherz abgeschnitten habe. Wenn mir das Medaillon genommen würde -- ich glaube, ich hätte keine Ruhe im Grabe. Und nun, bitte, geh! es wird sonst so spät!"
Oswald wußte nicht, was er thun sollte. Gab er dem Verlangen des Knaben nicht nach, so mußte er fürchten, dessen fieberhafte Unruhe, die sich jetzt fast gänzlich gelegt zu haben schien, wieder hervorzurufen. Auf der anderen Seite war ihm der Gedanke, ihn, wenn auch nur auf kurze Zeit, zu verlassen, sehr pein¬ lich. Und doch hätte er auch Helenen so gern gesehen -- nur für einen Augenblick -- mußte sich doch in diesen Stunden Alles entschieden haben.
Bruno machte seinen Zweifeln ein Ende.
"Du hast es mir versprochen!" sagte er traurig, "und nun willst Du nicht, Du hast mich nicht lieb!"
Was ließ sich dagegen thun? Oswald ging in das Nebenzimmer, sein Schlafgemach, und kleidete sich um. Er hatte sich wohl noch nie in einer solchen Stimmung zu einer Gesellschaft angekleidet. Das Ganze erschien ihm eine schauerliche Ironie. Er erschrack, als er sein bleiches verwüstetes Gesicht im Spiegel betrachtete. In diesen letzten Stunden schien er um eben so viele Jahre gealtert zu sein.
Er trat wieder an Bruno's Bett.
erſten Zeit einmal im Scherz abgeſchnitten habe. Wenn mir das Medaillon genommen würde — ich glaube, ich hätte keine Ruhe im Grabe. Und nun, bitte, geh! es wird ſonſt ſo ſpät!“
Oswald wußte nicht, was er thun ſollte. Gab er dem Verlangen des Knaben nicht nach, ſo mußte er fürchten, deſſen fieberhafte Unruhe, die ſich jetzt faſt gänzlich gelegt zu haben ſchien, wieder hervorzurufen. Auf der anderen Seite war ihm der Gedanke, ihn, wenn auch nur auf kurze Zeit, zu verlaſſen, ſehr pein¬ lich. Und doch hätte er auch Helenen ſo gern geſehen — nur für einen Augenblick — mußte ſich doch in dieſen Stunden Alles entſchieden haben.
Bruno machte ſeinen Zweifeln ein Ende.
„Du haſt es mir verſprochen!“ ſagte er traurig, „und nun willſt Du nicht, Du haſt mich nicht lieb!“
Was ließ ſich dagegen thun? Oswald ging in das Nebenzimmer, ſein Schlafgemach, und kleidete ſich um. Er hatte ſich wohl noch nie in einer ſolchen Stimmung zu einer Geſellſchaft angekleidet. Das Ganze erſchien ihm eine ſchauerliche Ironie. Er erſchrack, als er ſein bleiches verwüſtetes Geſicht im Spiegel betrachtete. In dieſen letzten Stunden ſchien er um eben ſo viele Jahre gealtert zu ſein.
Er trat wieder an Bruno's Bett.
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erſten Zeit einmal im Scherz abgeſchnitten habe. Wenn
mir das Medaillon genommen würde — ich glaube,
ich hätte keine Ruhe im Grabe. Und nun, bitte, geh!
es wird ſonſt ſo ſpät!“
Oswald wußte nicht, was er thun ſollte. Gab er
dem Verlangen des Knaben nicht nach, ſo mußte er
fürchten, deſſen fieberhafte Unruhe, die ſich jetzt faſt
gänzlich gelegt zu haben ſchien, wieder hervorzurufen.
Auf der anderen Seite war ihm der Gedanke, ihn,
wenn auch nur auf kurze Zeit, zu verlaſſen, ſehr pein¬
lich. Und doch hätte er auch Helenen ſo gern geſehen
— nur für einen Augenblick — mußte ſich doch in
dieſen Stunden Alles entſchieden haben.
Bruno machte ſeinen Zweifeln ein Ende.
„Du haſt es mir verſprochen!“ ſagte er traurig,
„und nun willſt Du nicht, Du haſt mich nicht lieb!“
Was ließ ſich dagegen thun? Oswald ging in das
Nebenzimmer, ſein Schlafgemach, und kleidete ſich um.
Er hatte ſich wohl noch nie in einer ſolchen Stimmung
zu einer Geſellſchaft angekleidet. Das Ganze erſchien
ihm eine ſchauerliche Ironie. Er erſchrack, als er ſein
bleiches verwüſtetes Geſicht im Spiegel betrachtete.
In dieſen letzten Stunden ſchien er um eben ſo viele
Jahre gealtert zu ſein.
Er trat wieder an Bruno's Bett.
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861/268>, abgerufen am 23.07.2024.
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