rühren kann. Wo bist Du? Es ist dunkel um mich her, ich sehe Dich nicht. Scheint nicht der Mond durch die Bäume? hörst Du, wie die Nachtigall singt? horch! wie süß, wie schön! . . . Oscar, Du darfst die Liese nicht verlassen; sie weint sich sonst die alten Augen aus. Und dem Harald mußt Du sagen: daß er die arme Marie nicht so quält. Sonst muß sie hinaus in die wilde Nacht. Leb' wohl, liebes Kind! Ja, ja, ich will Alles verbrennen; es liegt sicher in der Lade. Mutter Clausen kann nicht lesen; es kommt der Rechte schon zur rechten Zeit."
Der Kopf der Sterbenden sank herab auf die Brust. Albert glaubte sie todt. Er trat an die Lade, hob den schweren Deckel und durchwühlte hastig und doch methodisch genau den Inhalt. Es lagen Frauenkleider darin, die nicht der Mutter Clausen gehört haben konnten, städtische Kleider, wie sie junge Mädchen vor fünfundzwanzig Jahren trugen; verwelkte Blumen¬ sträuße, verblichene Bänder, ein paar einfache Schmuck¬ sachen: ein Band von rothen Korallen, ein kleines goldenes Kreuz an einem schwarzen Sammetbande. Das Alles mochte für einen Andern von hohem Interesse sein, aber für Albert hatte es nicht den mindesten. Er wurde ungeduldig, als er, ein Stück nach dem andern herausnehmend, nichts von dem
F. Spielhagen, Problematische Naturen. IV. 8
rühren kann. Wo biſt Du? Es iſt dunkel um mich her, ich ſehe Dich nicht. Scheint nicht der Mond durch die Bäume? hörſt Du, wie die Nachtigall ſingt? horch! wie ſüß, wie ſchön! . . . Oscar, Du darfſt die Lieſe nicht verlaſſen; ſie weint ſich ſonſt die alten Augen aus. Und dem Harald mußt Du ſagen: daß er die arme Marie nicht ſo quält. Sonſt muß ſie hinaus in die wilde Nacht. Leb' wohl, liebes Kind! Ja, ja, ich will Alles verbrennen; es liegt ſicher in der Lade. Mutter Clauſen kann nicht leſen; es kommt der Rechte ſchon zur rechten Zeit.“
Der Kopf der Sterbenden ſank herab auf die Bruſt. Albert glaubte ſie todt. Er trat an die Lade, hob den ſchweren Deckel und durchwühlte haſtig und doch methodiſch genau den Inhalt. Es lagen Frauenkleider darin, die nicht der Mutter Clauſen gehört haben konnten, ſtädtiſche Kleider, wie ſie junge Mädchen vor fünfundzwanzig Jahren trugen; verwelkte Blumen¬ ſträuße, verblichene Bänder, ein paar einfache Schmuck¬ ſachen: ein Band von rothen Korallen, ein kleines goldenes Kreuz an einem ſchwarzen Sammetbande. Das Alles mochte für einen Andern von hohem Intereſſe ſein, aber für Albert hatte es nicht den mindeſten. Er wurde ungeduldig, als er, ein Stück nach dem andern herausnehmend, nichts von dem
F. Spielhagen, Problematiſche Naturen. IV. 8
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rühren kann. Wo biſt Du? Es iſt dunkel um mich
her, ich ſehe Dich nicht. Scheint nicht der Mond
durch die Bäume? hörſt Du, wie die Nachtigall ſingt?
horch! wie ſüß, wie ſchön! . . . Oscar, Du darfſt
die Lieſe nicht verlaſſen; ſie weint ſich ſonſt die alten
Augen aus. Und dem Harald mußt Du ſagen: daß
er die arme Marie nicht ſo quält. Sonſt muß ſie
hinaus in die wilde Nacht. Leb' wohl, liebes Kind!
Ja, ja, ich will Alles verbrennen; es liegt ſicher in
der Lade. Mutter Clauſen kann nicht leſen; es kommt
der Rechte ſchon zur rechten Zeit.“
Der Kopf der Sterbenden ſank herab auf die Bruſt.
Albert glaubte ſie todt. Er trat an die Lade, hob
den ſchweren Deckel und durchwühlte haſtig und doch
methodiſch genau den Inhalt. Es lagen Frauenkleider
darin, die nicht der Mutter Clauſen gehört haben
konnten, ſtädtiſche Kleider, wie ſie junge Mädchen vor
fünfundzwanzig Jahren trugen; verwelkte Blumen¬
ſträuße, verblichene Bänder, ein paar einfache Schmuck¬
ſachen: ein Band von rothen Korallen, ein kleines
goldenes Kreuz an einem ſchwarzen Sammetbande.
Das Alles mochte für einen Andern von hohem
Intereſſe ſein, aber für Albert hatte es nicht den
mindeſten. Er wurde ungeduldig, als er, ein Stück
nach dem andern herausnehmend, nichts von dem
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861/123>, abgerufen am 22.12.2024.
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