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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861.

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und die er doch in der letzten Zeit so ganz vergessen
hatte, im Sterben, vielleicht allem, ohne Hülfe, ohne
daß ihr eine freundliche Hand das Kissen glättete --
er eilte, was er konnte, durch das kleinere Thor auf
dem Wege hin, der zu den Häuslerwohnungen führte,
denselben Weg, welchen Albert eine Viertelstunde zu¬
vor, in nicht geringerer Eile zurückgelegt hatte . . .

Albert war, als der Knabe sich entfernt hatte,
durch den Garten nach dem kleinen Thor geschlichen.
Niemand hatte ihn fortgehen sehen. Die Familie
war ausgefahren; Oswald glaubte er auf seinem
Zimmer.

"Fortes fortuna juvat;" dachte er, während er
unter den Weidenbäumen, mit denen der Weg besetzt
war, hinlief. "Es ist jetzt noch Alles auf dem Felde.
Die Alte hätte sich keine passendere Stunde zum Ster¬
ben aussuchen können. Ich will nur hoffen, daß sie
schon todt ist, wenn ich komme, und ich so aller un¬
nöthigen Auseinandersetzungen überhoben bin."

In wenigen Minuten hatte er das Dorf erreicht;
aber er vermied die Hauptstraße, sondern lief an den
Gärtchen, die hinter den Hütten lagen, entlang, bis
er zu der Wohnung Mutter Clausen's kam. Hier
sprang er über den niedrigen Zaun und trat durch
die offene Hinterthür auf den kleinen Flur. Er horchte,

und die er doch in der letzten Zeit ſo ganz vergeſſen
hatte, im Sterben, vielleicht allem, ohne Hülfe, ohne
daß ihr eine freundliche Hand das Kiſſen glättete —
er eilte, was er konnte, durch das kleinere Thor auf
dem Wege hin, der zu den Häuslerwohnungen führte,
denſelben Weg, welchen Albert eine Viertelſtunde zu¬
vor, in nicht geringerer Eile zurückgelegt hatte . . .

Albert war, als der Knabe ſich entfernt hatte,
durch den Garten nach dem kleinen Thor geſchlichen.
Niemand hatte ihn fortgehen ſehen. Die Familie
war ausgefahren; Oswald glaubte er auf ſeinem
Zimmer.

„Fortes fortuna juvat;“ dachte er, während er
unter den Weidenbäumen, mit denen der Weg beſetzt
war, hinlief. „Es iſt jetzt noch Alles auf dem Felde.
Die Alte hätte ſich keine paſſendere Stunde zum Ster¬
ben ausſuchen können. Ich will nur hoffen, daß ſie
ſchon todt iſt, wenn ich komme, und ich ſo aller un¬
nöthigen Auseinanderſetzungen überhoben bin.“

In wenigen Minuten hatte er das Dorf erreicht;
aber er vermied die Hauptſtraße, ſondern lief an den
Gärtchen, die hinter den Hütten lagen, entlang, bis
er zu der Wohnung Mutter Clauſen’s kam. Hier
ſprang er über den niedrigen Zaun und trat durch
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[111/0121] und die er doch in der letzten Zeit ſo ganz vergeſſen hatte, im Sterben, vielleicht allem, ohne Hülfe, ohne daß ihr eine freundliche Hand das Kiſſen glättete — er eilte, was er konnte, durch das kleinere Thor auf dem Wege hin, der zu den Häuslerwohnungen führte, denſelben Weg, welchen Albert eine Viertelſtunde zu¬ vor, in nicht geringerer Eile zurückgelegt hatte . . . Albert war, als der Knabe ſich entfernt hatte, durch den Garten nach dem kleinen Thor geſchlichen. Niemand hatte ihn fortgehen ſehen. Die Familie war ausgefahren; Oswald glaubte er auf ſeinem Zimmer. „Fortes fortuna juvat;“ dachte er, während er unter den Weidenbäumen, mit denen der Weg beſetzt war, hinlief. „Es iſt jetzt noch Alles auf dem Felde. Die Alte hätte ſich keine paſſendere Stunde zum Ster¬ ben ausſuchen können. Ich will nur hoffen, daß ſie ſchon todt iſt, wenn ich komme, und ich ſo aller un¬ nöthigen Auseinanderſetzungen überhoben bin.“ In wenigen Minuten hatte er das Dorf erreicht; aber er vermied die Hauptſtraße, ſondern lief an den Gärtchen, die hinter den Hütten lagen, entlang, bis er zu der Wohnung Mutter Clauſen’s kam. Hier ſprang er über den niedrigen Zaun und trat durch die offene Hinterthür auf den kleinen Flur. Er horchte,

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Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861/121>, abgerufen am 03.05.2024.