seiner in der verschwiegenen Kapelle harrte; ihm oft schon, ohne Furcht vor den Schauern der Nacht und der Einsamkeit, in dem Walde unter den hohen, ernsten, finstern Bäumen entgegen gekommen war! -- Und doch wußte er, daß sie jetzt einsam um ihn trauerte, daß sie ihm längst vergeben hatte, was sein knaben¬ hafter Trotz und seine kindische Laune an ihr ge¬ frevelt; daß kein strafendes Wort, kein vorwurfsvoller Blick ihn empfangen würden, wenn er zu ihr zurück käme; daß sie freudig ihre Arme ausbreiten und ihn an ihr liebevolles Herz ziehen würde. Ach! nicht an ihr zweifelte er, nicht an ihrer Liebe, aber an sich selbst, an seiner Liebe! Wie dumpfes Glockenläuten, wie Grabgesang tönten ihm noch immer die letzten Worte Oldenburg's: Wer von uns kann denn noch mit ganzem Herzen lieben? wer von uns hat denn noch ein ganzes Herz, und eine Stimme, die er nicht zum Schweigen bringen konnte, raunte ihm zu, wo er auch ging und stand und selbst des Nachts in seinen wirren Träumen: Du nicht! Du nicht! -- In den Linien Deiner Hand steht es ja geschrieben! Das braune Weib im Walde sah es ja auf den ersten Blick: Du kannst nicht treu sein: Du nicht! Du nicht! -- Und als Du zu Melitta's Füßen sankst, und den Schwur der Liebe und Treue stammeltest, schloß sie
ſeiner in der verſchwiegenen Kapelle harrte; ihm oft ſchon, ohne Furcht vor den Schauern der Nacht und der Einſamkeit, in dem Walde unter den hohen, ernſten, finſtern Bäumen entgegen gekommen war! — Und doch wußte er, daß ſie jetzt einſam um ihn trauerte, daß ſie ihm längſt vergeben hatte, was ſein knaben¬ hafter Trotz und ſeine kindiſche Laune an ihr ge¬ frevelt; daß kein ſtrafendes Wort, kein vorwurfsvoller Blick ihn empfangen würden, wenn er zu ihr zurück käme; daß ſie freudig ihre Arme ausbreiten und ihn an ihr liebevolles Herz ziehen würde. Ach! nicht an ihr zweifelte er, nicht an ihrer Liebe, aber an ſich ſelbſt, an ſeiner Liebe! Wie dumpfes Glockenläuten, wie Grabgeſang tönten ihm noch immer die letzten Worte Oldenburg's: Wer von uns kann denn noch mit ganzem Herzen lieben? wer von uns hat denn noch ein ganzes Herz, und eine Stimme, die er nicht zum Schweigen bringen konnte, raunte ihm zu, wo er auch ging und ſtand und ſelbſt des Nachts in ſeinen wirren Träumen: Du nicht! Du nicht! — In den Linien Deiner Hand ſteht es ja geſchrieben! Das braune Weib im Walde ſah es ja auf den erſten Blick: Du kannſt nicht treu ſein: Du nicht! Du nicht! — Und als Du zu Melitta's Füßen ſankſt, und den Schwur der Liebe und Treue ſtammelteſt, ſchloß ſie
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ſeiner in der verſchwiegenen Kapelle harrte; ihm oft
ſchon, ohne Furcht vor den Schauern der Nacht und
der Einſamkeit, in dem Walde unter den hohen, ernſten,
finſtern Bäumen entgegen gekommen war! — Und
doch wußte er, daß ſie jetzt einſam um ihn trauerte,
daß ſie ihm längſt vergeben hatte, was ſein knaben¬
hafter Trotz und ſeine kindiſche Laune an ihr ge¬
frevelt; daß kein ſtrafendes Wort, kein vorwurfsvoller
Blick ihn empfangen würden, wenn er zu ihr zurück
käme; daß ſie freudig ihre Arme ausbreiten und ihn
an ihr liebevolles Herz ziehen würde. Ach! nicht an
ihr zweifelte er, nicht an ihrer Liebe, aber an ſich
ſelbſt, an ſeiner Liebe! Wie dumpfes Glockenläuten,
wie Grabgeſang tönten ihm noch immer die letzten
Worte Oldenburg's: Wer von uns kann denn noch
mit ganzem Herzen lieben? wer von uns hat denn
noch ein ganzes Herz, und eine Stimme, die er nicht
zum Schweigen bringen konnte, raunte ihm zu, wo
er auch ging und ſtand und ſelbſt des Nachts in
ſeinen wirren Träumen: Du nicht! Du nicht! — In
den Linien Deiner Hand ſteht es ja geſchrieben! Das
braune Weib im Walde ſah es ja auf den erſten
Blick: Du kannſt nicht treu ſein: Du nicht! Du nicht!
— Und als Du zu Melitta's Füßen ſankſt, und den
Schwur der Liebe und Treue ſtammelteſt, ſchloß ſie
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 2. Berlin, 1861, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische02_1861/209>, abgerufen am 23.11.2024.
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