und wem dann eine möglichst prosaische Arbeit zuge¬ muthet wurde, wird begreifen, daß der junge Mann, sobald der Baron das Zimmer verlassen hatte, das ganze Packet verächtlich in eine Ecke schleuderte.
Er warf sich auf das Sopha und schloß die Augen, um von Melitta zu träumen. Aber je eifriger er sich ihr geliebtes Bild vorzustellen suchte, desto eigensinniger steckte sich das runzlige Gesicht des alten Barons da¬ zwischen. Das verwandelte sich dann wieder in das der braunen Gräfin, dann zog ihm der Pastor Jäger eine Fratze, und plötzlich stand Bruno im Zimmer, gehüllt in lange, wallende weiße Gewänder. Oswald wollte lachen über die tolle Maskerade, aber als er einen Blick in das Gesicht des Knaben warf, erstarb das Lachen auf seinen Lippen. Ein Schauer durch¬ rieselte ihn, seine Haare bäumten sich -- die wachs¬ bleiche Farbe, die so seltsam von den blauschwarzen Haaren abstach, die weiten starren Augen, ein namen¬ loses Etwas in dem Ausdruck dieser glanzlosen, ge¬ brochenen und doch so wunderbar beredten Augen -- das war nicht Bruno, das war der Tod, der leib¬ haftige Tod in Bruno's vielgeliebter Gestalt... Mit einem wilden Schrei fuhr Oswald in die Höhe. Das schreckliche Bild war verschwunden, aber es bedurfte mehrer Minuten, bis der junge Mann sich überzeugen
und wem dann eine möglichſt proſaiſche Arbeit zuge¬ muthet wurde, wird begreifen, daß der junge Mann, ſobald der Baron das Zimmer verlaſſen hatte, das ganze Packet verächtlich in eine Ecke ſchleuderte.
Er warf ſich auf das Sopha und ſchloß die Augen, um von Melitta zu träumen. Aber je eifriger er ſich ihr geliebtes Bild vorzuſtellen ſuchte, deſto eigenſinniger ſteckte ſich das runzlige Geſicht des alten Barons da¬ zwiſchen. Das verwandelte ſich dann wieder in das der braunen Gräfin, dann zog ihm der Paſtor Jäger eine Fratze, und plötzlich ſtand Bruno im Zimmer, gehüllt in lange, wallende weiße Gewänder. Oswald wollte lachen über die tolle Maskerade, aber als er einen Blick in das Geſicht des Knaben warf, erſtarb das Lachen auf ſeinen Lippen. Ein Schauer durch¬ rieſelte ihn, ſeine Haare bäumten ſich — die wachs¬ bleiche Farbe, die ſo ſeltſam von den blauſchwarzen Haaren abſtach, die weiten ſtarren Augen, ein namen¬ loſes Etwas in dem Ausdruck dieſer glanzloſen, ge¬ brochenen und doch ſo wunderbar beredten Augen — das war nicht Bruno, das war der Tod, der leib¬ haftige Tod in Bruno's vielgeliebter Geſtalt... Mit einem wilden Schrei fuhr Oswald in die Höhe. Das ſchreckliche Bild war verſchwunden, aber es bedurfte mehrer Minuten, bis der junge Mann ſich überzeugen
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und wem dann eine möglichſt proſaiſche Arbeit zuge¬
muthet wurde, wird begreifen, daß der junge Mann,
ſobald der Baron das Zimmer verlaſſen hatte, das
ganze Packet verächtlich in eine Ecke ſchleuderte.
Er warf ſich auf das Sopha und ſchloß die Augen,
um von Melitta zu träumen. Aber je eifriger er ſich
ihr geliebtes Bild vorzuſtellen ſuchte, deſto eigenſinniger
ſteckte ſich das runzlige Geſicht des alten Barons da¬
zwiſchen. Das verwandelte ſich dann wieder in das
der braunen Gräfin, dann zog ihm der Paſtor Jäger
eine Fratze, und plötzlich ſtand Bruno im Zimmer,
gehüllt in lange, wallende weiße Gewänder. Oswald
wollte lachen über die tolle Maskerade, aber als er
einen Blick in das Geſicht des Knaben warf, erſtarb
das Lachen auf ſeinen Lippen. Ein Schauer durch¬
rieſelte ihn, ſeine Haare bäumten ſich — die wachs¬
bleiche Farbe, die ſo ſeltſam von den blauſchwarzen
Haaren abſtach, die weiten ſtarren Augen, ein namen¬
loſes Etwas in dem Ausdruck dieſer glanzloſen, ge¬
brochenen und doch ſo wunderbar beredten Augen —
das war nicht Bruno, das war der Tod, der leib¬
haftige Tod in Bruno's vielgeliebter Geſtalt... Mit
einem wilden Schrei fuhr Oswald in die Höhe. Das
ſchreckliche Bild war verſchwunden, aber es bedurfte
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/223>, abgerufen am 25.11.2024.
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