Erde kommt Keiner, aber unter die Erde kommen sie Alle -- Alle" -- und die alte Frau strich die Falten ihres Rockes wieder über den Knieen glatt.
"Die Körper wohl, aber die Seelen" --
"Na, ich weiß nicht," sagte die Matrone, den Kopf schüttelnd, "aber das weiß ich, daß wenn einer gestor¬ ben ist, er richtig todt ist, und wir sagen: nun hat die liebe Seele Ruhe. Und etwas Besseres als Ruhe kann sich auch Keiner nicht wünschen, er mag ein Edel¬ mann oder ein Bauersmann sein, jung oder alt."
"Weshalb aber gehen Sie denn noch den weiten Weg in die Kirche, wenn Sie an nichts mehr glauben?" fragte Oswald.
"Wer sagt das?" sagte die Matrone fast entrüstet; "ich glaube an Gott, wie jeder Christenmensch; und rechtschaffen und fromm muß man sein, das hat mit der Auferstehung nichts zu schaffen; und seine Pflicht muß man thun, das versteht sich von selbst. Und nun, junger Herr, machen Sie, daß Sie fortkommen, es wird sonst gar zu spät. Ich will nur wieder um¬ kehren. Adjes!" Damit stand sie auf, ergriff einen Eichenstock, der neben ihr an dem Stein gelehnt hatte, streckte Oswald die welke, zitternde Hand hin, die dieser nicht ohne ein Gefühl der Ehrfurcht drückte, und
Erde kommt Keiner, aber unter die Erde kommen ſie Alle — Alle“ — und die alte Frau ſtrich die Falten ihres Rockes wieder über den Knieen glatt.
„Die Körper wohl, aber die Seelen“ —
„Na, ich weiß nicht,“ ſagte die Matrone, den Kopf ſchüttelnd, „aber das weiß ich, daß wenn einer geſtor¬ ben iſt, er richtig todt iſt, und wir ſagen: nun hat die liebe Seele Ruhe. Und etwas Beſſeres als Ruhe kann ſich auch Keiner nicht wünſchen, er mag ein Edel¬ mann oder ein Bauersmann ſein, jung oder alt.“
„Weshalb aber gehen Sie denn noch den weiten Weg in die Kirche, wenn Sie an nichts mehr glauben?“ fragte Oswald.
„Wer ſagt das?“ ſagte die Matrone faſt entrüſtet; „ich glaube an Gott, wie jeder Chriſtenmenſch; und rechtſchaffen und fromm muß man ſein, das hat mit der Auferſtehung nichts zu ſchaffen; und ſeine Pflicht muß man thun, das verſteht ſich von ſelbſt. Und nun, junger Herr, machen Sie, daß Sie fortkommen, es wird ſonſt gar zu ſpät. Ich will nur wieder um¬ kehren. Adjes!“ Damit ſtand ſie auf, ergriff einen Eichenſtock, der neben ihr an dem Stein gelehnt hatte, ſtreckte Oswald die welke, zitternde Hand hin, die dieſer nicht ohne ein Gefühl der Ehrfurcht drückte, und
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Erde kommt Keiner, aber unter die Erde kommen ſie
Alle — Alle“ — und die alte Frau ſtrich die Falten
ihres Rockes wieder über den Knieen glatt.
„Die Körper wohl, aber die Seelen“ —
„Na, ich weiß nicht,“ ſagte die Matrone, den Kopf
ſchüttelnd, „aber das weiß ich, daß wenn einer geſtor¬
ben iſt, er richtig todt iſt, und wir ſagen: nun hat
die liebe Seele Ruhe. Und etwas Beſſeres als Ruhe
kann ſich auch Keiner nicht wünſchen, er mag ein Edel¬
mann oder ein Bauersmann ſein, jung oder alt.“
„Weshalb aber gehen Sie denn noch den weiten
Weg in die Kirche, wenn Sie an nichts mehr glauben?“
fragte Oswald.
„Wer ſagt das?“ ſagte die Matrone faſt entrüſtet;
„ich glaube an Gott, wie jeder Chriſtenmenſch; und
rechtſchaffen und fromm muß man ſein, das hat mit
der Auferſtehung nichts zu ſchaffen; und ſeine Pflicht
muß man thun, das verſteht ſich von ſelbſt. Und nun,
junger Herr, machen Sie, daß Sie fortkommen, es
wird ſonſt gar zu ſpät. Ich will nur wieder um¬
kehren. Adjes!“ Damit ſtand ſie auf, ergriff einen
Eichenſtock, der neben ihr an dem Stein gelehnt hatte,
ſtreckte Oswald die welke, zitternde Hand hin, die
dieſer nicht ohne ein Gefühl der Ehrfurcht drückte, und
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/102>, abgerufen am 20.07.2024.
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