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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715.

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ARTIC. VI. SECTIO VI.
möglich werde, wenn man schon gern will, jedem, sonderlich in solchen materien,
darzu arbeit gehöret, zu antworten, daher ich, ob ich wol zufrieden wäre, wann ich
nichts anders zu thun, als von morgen zu abend in dergleichen ausfertigungen be-
schäfftiget zu seyn, gantze ja etliche jahr zuweilen vorbey streichen lassen muß, ehe an
die antwort komme, insgesamt aber leicht zwey drittheil der an mich einlauffen-
den brieffe ohnbeantwortet hinlegen muß: nun weiß ich viele, die noch mehr zu thun
haben als ich, welche nemlich auch mit der besondern seelen-sorge belastet sind, da-
her ich dergleichen männer unschwer entschuldigt halten muß, wo sie mit antworten
nicht können einhalten, noch eintzeln fremder personen anfragen die amts-geschäff-
ten oder andere, die das publicum unmittelbar angehen, nachzusetzen getrauen.
Zu geschweigen wo etwa der Herr dem Theologo selbs nicht bekant seyn möchte,
daß zu jetzigen zeiten ein christlicher mann auch bedencken haben könte, in einigen
wichtigern materien sein bedencken einem unbekanten zu ertheilen, dessen jemand
sich mißbrauchen könte. Was aber mich anlangt, habe guten fug und macht, weil in
mehrern wochen alle zu dergleichen dingen zu erübrigen möglich geweßte zeit zu obi-
ger antwort angewendet, mich des fernern anmuthens zu entschütten, und
so viele andere brieffe, die noch länger gewartet, vor zu nehmen. Doch will eini-
ges weniges zum überfluß anfügen, darinnen der grund der gantzen antwort stehet.
1. Wer einer gemeinde vorstehen solle, der muß nothwendig den weg zum theil selbs
wissen und ihn andern zu zeigen verstehen. 2. Daß keiner ein tüchtiger prediger
seyn könne, der nicht in allen stücken seines lebens einen vorzug vor allen seinen zuhö-
rern habe, ist falsch: ein anders ist, und darnach hat er sich allerdings zu bestreben,
daß er ihnen auch in dem leben ein vorbild werde, und zwar jelänger jemehr. 3. Zu den
zeiten der kirchen, da insgemein das maaß der gaben des geistes reicher gewesen, hät-
te sich derjenige, welcher seine schwachheit erkant, dem kirchen-dienst leichter entzie-
hen können, als zu der zeit, da die allermeisten gemeinden ohne lehrer bleiben müsten,
wo wir lauter Gregorios Nazianzenos haben wolten. 4. Wem GOtt soviel er-
käntnüß des heils gegeben, daß er auch den weg darzu aus GOttes wort andern
zeigen kan, der auch soviel gaben empfangen, dasselbige deutlich zu thun, nechst dem
einen hertzlichen willen hat, in seinem gantzen leben GOtt treulich zu dienen (derglei-
chen von jedem christen erfordert wird) folglich auch in dem amt alle schuldige treue
anzuwenden, kan mit gutem gewissen dem beruff zu dem predigamt sich nicht ent-
ziehen. 5. Wer da er ein pfund empfangen hat, nicht nur aus faulheit und liebe der
gemächligkeit des lebens, sondern auch aus sorge vor GOttes gerechtigkeit, die
mehr von uns fordere als zu diesen zeiten auszurichten seye, sich dem beruff entzeugt,
fället allerdings in die schuld des Matth. XXV. vorgestelten schalcks-knechts. 6. Wer
nach seinem vermögen arbeitet, ob er auch aus seiner schwachheit und beywohnen-
den mangel vieles nicht ausrichten kan, was er sonsten ausrichten solte, weil er doch

was
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ARTIC. VI. SECTIO VI.
moͤglich werde, wenn man ſchon gern will, jedem, ſonderlich in ſolchen materien,
darzu arbeit gehoͤret, zu antworten, daher ich, ob ich wol zufrieden waͤre, wann ich
nichts anders zu thun, als von morgen zu abend in dergleichen ausfertigungen be-
ſchaͤfftiget zu ſeyn, gantze ja etliche jahr zuweilen vorbey ſtreichen laſſen muß, ehe an
die antwort komme, insgeſamt aber leicht zwey drittheil der an mich einlauffen-
den brieffe ohnbeantwortet hinlegen muß: nun weiß ich viele, die noch mehr zu thun
haben als ich, welche nemlich auch mit der beſondern ſeelen-ſorge belaſtet ſind, da-
her ich dergleichen maͤnner unſchwer entſchuldigt halten muß, wo ſie mit antworten
nicht koͤnnen einhalten, noch eintzeln fremder perſonen anfragen die amts-geſchaͤff-
ten oder andere, die das publicum unmittelbar angehen, nachzuſetzen getrauen.
Zu geſchweigen wo etwa der Herr dem Theologo ſelbs nicht bekant ſeyn moͤchte,
daß zu jetzigen zeiten ein chriſtlicher mann auch bedencken haben koͤnte, in einigen
wichtigern materien ſein bedencken einem unbekanten zu ertheilen, deſſen jemand
ſich mißbrauchen koͤnte. Was aber mich anlangt, habe guten fug und macht, weil in
mehrern wochen alle zu dergleichen dingen zu eruͤbrigen moͤglich geweßte zeit zu obi-
ger antwort angewendet, mich des fernern anmuthens zu entſchuͤtten, und
ſo viele andere brieffe, die noch laͤnger gewartet, vor zu nehmen. Doch will eini-
ges weniges zum uͤberfluß anfuͤgen, darinnen der grund der gantzen antwort ſtehet.
1. Wer einer gemeinde vorſtehen ſolle, der muß nothwendig den weg zum theil ſelbs
wiſſen und ihn andern zu zeigen verſtehen. 2. Daß keiner ein tuͤchtiger prediger
ſeyn koͤnne, der nicht in allen ſtuͤcken ſeines lebens einen vorzug vor allen ſeinen zuhoͤ-
rern habe, iſt falſch: ein anders iſt, und darnach hat er ſich allerdings zu beſtreben,
daß er ihnen auch in dem leben ein vorbild werde, und zwar jelaͤnger jemehr. 3. Zu den
zeiten der kirchen, da insgemein das maaß der gaben des geiſtes reicher geweſen, haͤt-
te ſich derjenige, welcher ſeine ſchwachheit erkant, dem kirchen-dienſt leichter entzie-
hen koͤnnen, als zu der zeit, da die allermeiſten gemeinden ohne lehrer bleiben muͤſten,
wo wir lauter Gregorios Nazianzenos haben wolten. 4. Wem GOtt ſoviel er-
kaͤntnuͤß des heils gegeben, daß er auch den weg darzu aus GOttes wort andern
zeigen kan, der auch ſoviel gaben empfangen, daſſelbige deutlich zu thun, nechſt dem
einen hertzlichen willen hat, in ſeinem gantzen leben GOtt treulich zu dienen (derglei-
chen von jedem chriſten erfordert wird) folglich auch in dem amt alle ſchuldige treue
anzuwenden, kan mit gutem gewiſſen dem beruff zu dem predigamt ſich nicht ent-
ziehen. 5. Wer da er ein pfund empfangen hat, nicht nur aus faulheit und liebe der
gemaͤchligkeit des lebens, ſondern auch aus ſorge vor GOttes gerechtigkeit, die
mehr von uns fordere als zu dieſen zeiten auszurichten ſeye, ſich dem beruff entzeugt,
faͤllet allerdings in die ſchuld des Matth. XXV. voꝛgeſtelten ſchalcks-knechts. 6. Weꝛ
nach ſeinem vermoͤgen arbeitet, ob er auch aus ſeiner ſchwachheit und beywohnen-
den mangel vieles nicht ausrichten kan, was er ſonſten ausrichten ſolte, weil er doch

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[733/0745] ARTIC. VI. SECTIO VI. moͤglich werde, wenn man ſchon gern will, jedem, ſonderlich in ſolchen materien, darzu arbeit gehoͤret, zu antworten, daher ich, ob ich wol zufrieden waͤre, wann ich nichts anders zu thun, als von morgen zu abend in dergleichen ausfertigungen be- ſchaͤfftiget zu ſeyn, gantze ja etliche jahr zuweilen vorbey ſtreichen laſſen muß, ehe an die antwort komme, insgeſamt aber leicht zwey drittheil der an mich einlauffen- den brieffe ohnbeantwortet hinlegen muß: nun weiß ich viele, die noch mehr zu thun haben als ich, welche nemlich auch mit der beſondern ſeelen-ſorge belaſtet ſind, da- her ich dergleichen maͤnner unſchwer entſchuldigt halten muß, wo ſie mit antworten nicht koͤnnen einhalten, noch eintzeln fremder perſonen anfragen die amts-geſchaͤff- ten oder andere, die das publicum unmittelbar angehen, nachzuſetzen getrauen. Zu geſchweigen wo etwa der Herr dem Theologo ſelbs nicht bekant ſeyn moͤchte, daß zu jetzigen zeiten ein chriſtlicher mann auch bedencken haben koͤnte, in einigen wichtigern materien ſein bedencken einem unbekanten zu ertheilen, deſſen jemand ſich mißbrauchen koͤnte. Was aber mich anlangt, habe guten fug und macht, weil in mehrern wochen alle zu dergleichen dingen zu eruͤbrigen moͤglich geweßte zeit zu obi- ger antwort angewendet, mich des fernern anmuthens zu entſchuͤtten, und ſo viele andere brieffe, die noch laͤnger gewartet, vor zu nehmen. Doch will eini- ges weniges zum uͤberfluß anfuͤgen, darinnen der grund der gantzen antwort ſtehet. 1. Wer einer gemeinde vorſtehen ſolle, der muß nothwendig den weg zum theil ſelbs wiſſen und ihn andern zu zeigen verſtehen. 2. Daß keiner ein tuͤchtiger prediger ſeyn koͤnne, der nicht in allen ſtuͤcken ſeines lebens einen vorzug vor allen ſeinen zuhoͤ- rern habe, iſt falſch: ein anders iſt, und darnach hat er ſich allerdings zu beſtreben, daß er ihnen auch in dem leben ein vorbild werde, und zwar jelaͤnger jemehr. 3. Zu den zeiten der kirchen, da insgemein das maaß der gaben des geiſtes reicher geweſen, haͤt- te ſich derjenige, welcher ſeine ſchwachheit erkant, dem kirchen-dienſt leichter entzie- hen koͤnnen, als zu der zeit, da die allermeiſten gemeinden ohne lehrer bleiben muͤſten, wo wir lauter Gregorios Nazianzenos haben wolten. 4. Wem GOtt ſoviel er- kaͤntnuͤß des heils gegeben, daß er auch den weg darzu aus GOttes wort andern zeigen kan, der auch ſoviel gaben empfangen, daſſelbige deutlich zu thun, nechſt dem einen hertzlichen willen hat, in ſeinem gantzen leben GOtt treulich zu dienen (derglei- chen von jedem chriſten erfordert wird) folglich auch in dem amt alle ſchuldige treue anzuwenden, kan mit gutem gewiſſen dem beruff zu dem predigamt ſich nicht ent- ziehen. 5. Wer da er ein pfund empfangen hat, nicht nur aus faulheit und liebe der gemaͤchligkeit des lebens, ſondern auch aus ſorge vor GOttes gerechtigkeit, die mehr von uns fordere als zu dieſen zeiten auszurichten ſeye, ſich dem beruff entzeugt, faͤllet allerdings in die ſchuld des Matth. XXV. voꝛgeſtelten ſchalcks-knechts. 6. Weꝛ nach ſeinem vermoͤgen arbeitet, ob er auch aus ſeiner ſchwachheit und beywohnen- den mangel vieles nicht ausrichten kan, was er ſonſten ausrichten ſolte, weil er doch was z z z z 3

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715, S. 733. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/745>, abgerufen am 24.11.2024.