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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715.

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Das siebende Capitel.
7. So der mensch nach ablegung der eusserlichen laster anfängt auch
deren innern bewegungen sich starck zu widersetzen.
8. So der mensch anfängt zu erkennen, wie viel ihm noch mangele, und
wie weit er noch von der vollkommenheit seye, daher ihm auch wol die gedan-
cken aufsteigen, er seye bey anfang der bekehrung eiferiger und beständiger ge-
wesen, habe auch weniger böses in sich empfunden. Dieses möchte in einem
feinen gleichnüß erläutert werden von einem menschen, der in einem finstern
gefängnüß sitzet, so voller unflaths und unsauberkeit ist, davon er aber nichts
mehrers in acht nimmt, als was er mit händen und füssen fühlet, fänget an et-
was liecht hinein zu scheinen, sihet er schon mehr, nemlich was ihm das durch
kleineritze einfallende liecht zeiget: ob es wol allezeit bereits da gewesen, aber
nicht gesehen worden. Wann aber das gefängnüß geöffnet und gantz hell
darinn wird, wird aller unflath auf einmal offenbar, daß auch das geringste
nicht verborgen bleibt. So gehets auch einer frommen seelen, so im gefäng-
nüß des leibes dieses todes, darinn eitel unflath der sünden und laster zu fin-
den, verschlossen ist, und nur ein geringes liechtlein der erkäntnüß GOttes und
ihr selbs hat, dardurch sie mehrers nicht wahrnimmet von dem sünden-un-
flath, als was eusserlich ist, und dem der mensch mit geringer mühe sich wider-
setzen kan: Dahero er sich eingebildet, er wäre schon in tödtung seines alten
Adams gar weit gekommen. So aber das liecht göttlicher erkänntnüß hel-
ler in ihm aufgehet, sihet er mehrere greuel, die er vor diesem bey sich zu haben
nicht vermeint hatte: Er erkennet auch, wie vieles er vormalen vor göttliche
wirckungen, und also tugenden, gehalten, welches er nun sihet, entweder von
dem guten temperament oder wol gar von dem verderbten fleisch, hergekom-
men zu seyn: Wie also gleicher massen, wer in den studiis anfängt zu erken-
nen, wo es ihm in seiner wissenschafft mangele, hat eben daran eine anzeigung,
daß er ziemlich zugenommen, dann diejenige, welche erst zu studiren angefan-
gen, meinen gemeiniglich, sie seyen gelehrter, weil sie noch nicht recht Einehen,
was zu der wahren erudition gehöre: Also ist auch diese demuth ein stattli-
ches zeugnüß des wahren wachsthums.
Jnsgemein stehet der wachsthum des Christenthums in dem wachs-
thum des glaubens, alle die obige stück aber als früchten und kennzeichen des
glaubens, sind also auch die gewisse zeichen des wachsthums. Etliche aber
sind von andern besser als von uns selbs zu erkennen.
Hingegen ist ein starckes zeugnüß des abnehmens, wo man sicher
wird, einige sünden immer geringer achtet, und sich wenig bedencken macht,
dieselbe zu begehen, von gewissen sünden öffters überwunden wird, die man
doch zu andern malen leicht überwunden hat, also auch wo man träg wird,
und
Das ſiebende Capitel.
7. So der menſch nach ablegung der euſſerlichen laſter anfaͤngt auch
deren innern bewegungen ſich ſtarck zu widerſetzen.
8. So der menſch anfaͤngt zu erkennen, wie viel ihm noch mangele, und
wie weit er noch von der vollkommenheit ſeye, daher ihm auch wol die gedan-
cken aufſteigen, er ſeye bey anfang der bekehrung eiferiger und beſtaͤndiger ge-
weſen, habe auch weniger boͤſes in ſich empfunden. Dieſes moͤchte in einem
feinen gleichnuͤß erlaͤutert werden von einem menſchen, der in einem finſtern
gefaͤngnuͤß ſitzet, ſo voller unflaths und unſauberkeit iſt, davon er aber nichts
mehrers in acht nimmt, als was er mit haͤnden und fuͤſſen fuͤhlet, faͤnget an et-
was liecht hinein zu ſcheinen, ſihet er ſchon mehr, nemlich was ihm das durch
kleineritze einfallende liecht zeiget: ob es wol allezeit bereits da geweſen, aber
nicht geſehen worden. Wann aber das gefaͤngnuͤß geoͤffnet und gantz hell
darinn wird, wird aller unflath auf einmal offenbar, daß auch das geringſte
nicht verborgen bleibt. So gehets auch einer frommen ſeelen, ſo im gefaͤng-
nuͤß des leibes dieſes todes, darinn eitel unflath der ſuͤnden und laſter zu fin-
den, verſchloſſen iſt, und nur ein geringes liechtlein der erkaͤntnuͤß GOttes und
ihr ſelbs hat, dardurch ſie mehrers nicht wahrnimmet von dem ſuͤnden-un-
flath, als was euſſerlich iſt, und dem der menſch mit geringer muͤhe ſich wider-
ſetzen kan: Dahero er ſich eingebildet, er waͤre ſchon in toͤdtung ſeines alten
Adams gar weit gekommen. So aber das liecht goͤttlicher erkaͤnntnuͤß hel-
ler in ihm aufgehet, ſihet er mehrere greuel, die er vor dieſem bey ſich zu haben
nicht vermeint hatte: Er erkennet auch, wie vieles er vormalen vor goͤttliche
wirckungen, und alſo tugenden, gehalten, welches er nun ſihet, entweder von
dem guten temperament oder wol gar von dem verderbten fleiſch, hergekom-
men zu ſeyn: Wie alſo gleicher maſſen, wer in den ſtudiis anfaͤngt zu erken-
nen, wo es ihm in ſeiner wiſſenſchafft mangele, hat eben daran eine anzeigung,
daß er ziemlich zugenommen, dann diejenige, welche erſt zu ſtudiren angefan-
gen, meinen gemeiniglich, ſie ſeyen gelehrter, weil ſie noch nicht recht Einehen,
was zu der wahren erudition gehoͤre: Alſo iſt auch dieſe demuth ein ſtattli-
ches zeugnuͤß des wahren wachsthums.
Jnsgemein ſtehet der wachsthum des Chriſtenthums in dem wachs-
thum des glaubens, alle die obige ſtuͤck aber als fruͤchten und kennzeichen des
glaubens, ſind alſo auch die gewiſſe zeichen des wachsthums. Etliche aber
ſind von andern beſſer als von uns ſelbs zu erkennen.
Hingegen iſt ein ſtarckes zeugnuͤß des abnehmens, wo man ſicher
wird, einige ſuͤnden immer geringer achtet, und ſich wenig bedencken macht,
dieſelbe zu begehen, von gewiſſen ſuͤnden oͤffters uͤberwunden wird, die man
doch zu andern malen leicht uͤberwunden hat, alſo auch wo man traͤg wird,
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[8/0020] Das ſiebende Capitel. 7. So der menſch nach ablegung der euſſerlichen laſter anfaͤngt auch deren innern bewegungen ſich ſtarck zu widerſetzen. 8. So der menſch anfaͤngt zu erkennen, wie viel ihm noch mangele, und wie weit er noch von der vollkommenheit ſeye, daher ihm auch wol die gedan- cken aufſteigen, er ſeye bey anfang der bekehrung eiferiger und beſtaͤndiger ge- weſen, habe auch weniger boͤſes in ſich empfunden. Dieſes moͤchte in einem feinen gleichnuͤß erlaͤutert werden von einem menſchen, der in einem finſtern gefaͤngnuͤß ſitzet, ſo voller unflaths und unſauberkeit iſt, davon er aber nichts mehrers in acht nimmt, als was er mit haͤnden und fuͤſſen fuͤhlet, faͤnget an et- was liecht hinein zu ſcheinen, ſihet er ſchon mehr, nemlich was ihm das durch kleineritze einfallende liecht zeiget: ob es wol allezeit bereits da geweſen, aber nicht geſehen worden. Wann aber das gefaͤngnuͤß geoͤffnet und gantz hell darinn wird, wird aller unflath auf einmal offenbar, daß auch das geringſte nicht verborgen bleibt. So gehets auch einer frommen ſeelen, ſo im gefaͤng- nuͤß des leibes dieſes todes, darinn eitel unflath der ſuͤnden und laſter zu fin- den, verſchloſſen iſt, und nur ein geringes liechtlein der erkaͤntnuͤß GOttes und ihr ſelbs hat, dardurch ſie mehrers nicht wahrnimmet von dem ſuͤnden-un- flath, als was euſſerlich iſt, und dem der menſch mit geringer muͤhe ſich wider- ſetzen kan: Dahero er ſich eingebildet, er waͤre ſchon in toͤdtung ſeines alten Adams gar weit gekommen. So aber das liecht goͤttlicher erkaͤnntnuͤß hel- ler in ihm aufgehet, ſihet er mehrere greuel, die er vor dieſem bey ſich zu haben nicht vermeint hatte: Er erkennet auch, wie vieles er vormalen vor goͤttliche wirckungen, und alſo tugenden, gehalten, welches er nun ſihet, entweder von dem guten temperament oder wol gar von dem verderbten fleiſch, hergekom- men zu ſeyn: Wie alſo gleicher maſſen, wer in den ſtudiis anfaͤngt zu erken- nen, wo es ihm in ſeiner wiſſenſchafft mangele, hat eben daran eine anzeigung, daß er ziemlich zugenommen, dann diejenige, welche erſt zu ſtudiren angefan- gen, meinen gemeiniglich, ſie ſeyen gelehrter, weil ſie noch nicht recht Einehen, was zu der wahren erudition gehoͤre: Alſo iſt auch dieſe demuth ein ſtattli- ches zeugnuͤß des wahren wachsthums. Jnsgemein ſtehet der wachsthum des Chriſtenthums in dem wachs- thum des glaubens, alle die obige ſtuͤck aber als fruͤchten und kennzeichen des glaubens, ſind alſo auch die gewiſſe zeichen des wachsthums. Etliche aber ſind von andern beſſer als von uns ſelbs zu erkennen. Hingegen iſt ein ſtarckes zeugnuͤß des abnehmens, wo man ſicher wird, einige ſuͤnden immer geringer achtet, und ſich wenig bedencken macht, dieſelbe zu begehen, von gewiſſen ſuͤnden oͤffters uͤberwunden wird, die man doch zu andern malen leicht uͤberwunden hat, alſo auch wo man traͤg wird, und

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/20>, abgerufen am 21.11.2024.