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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702.

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Das sechste Capitel.
wolte. Jndessen würde ich mich schämen/ als offt ich sie tochter nennen würde/
weil ich deroselben vaters treue zu erweisen nicht vermöge noch je vermocht habe
(worin ich mich beruffe auff Pauli wort 1. Cor. 4/ 15.) sondern wird sie den auch
liebreichen schwester-nahmen/ als den jenigen/ welcher der eigentlichste ist/ der ihr
von mir gebühret/ ihr wohlgefallen lassen. Jch setze auch nichts bey von andern
noch etwa weltlichen titeln/ die ich zwar nicht bloß dahin verwerffe/ aber eine solche
vertraulichkeit unter uns Christen wünschete/ daß wir von jenen nicht grossen stat
machten/ sondern auch damit bezeugten/ daß wir das geistliche vor das höchste gut/
und dieselbe ehr vor die höchste ehre/ halten/ wo wir uns über die jenige nahmen vor-
nehmlich freuten/ und dero gern gebrauchten/ die aus solchen geistlichen respe-
ct
en unter uns entstehen/ und von aller weltlichen eitelkeit entfernet sind. Jch
muß zwar auch ins gemein andere titul annehmen und geben/ daß beydes offt nicht
ohne betrübnüß geschiehet/ weil die jenige betrübte zeit es nicht anders mit sich
bringet/ und eine sonderlichkeit wider den allgemeinen gebrauch darinnen zu weisen/
andern ungleichen verdacht leider bey vielen auch eben nicht bösen gemüthern na[c]h
sich ziehen/ und besorglich nur mehr übels verursachen würde. Daher wir ob
zwar sonsten in sachen/ die allerdings göttlichem gebot entgegen sind/ der welt uns
nicht gleichförmig stellen/ dennoch in etlichen eusserlichen/ und an sich selbs nicht
sündlichen dingen dem gemeinen gebrauch weichen dürffen und müssen/ und also
nicht allezeit thun/ was an sich selbs ohne betrachtung der zeiten das beste wäre/ son-
dern was gegenwärtige zeit ertragen mag. Aber ach wie erfreulich solte mirs seyn/
wo wir auch hierinnen weniger gebunden wären. Auffs wenigste ist mir dieses
vergnüglich/ gegen die jenige/ welche dergleichen von mir willig annehmen/ in der
freyheit einherzugehen/ wie ich bey allen zu seyn wünschete. Jhre führende kla-
ge über das jenige/ was sie täglich vor augen sehen muß/ ist auch meiner und ande-
rer guter gemüther tägliche betrübnüß: Wo wir gedencken/ wie es so gar schwehr
werde unter so grossem hauffen deren/ die sich alle von CHrisio rühmen/ etwa ein und
andern anzutreffen/ der auch darinnen sich einen Christen zu seyn thätlich bezeigte/
daß er sein einiges anligen seyn liesse/ allein nach den willen und exempel seines Hei-
landes zu leben: ja daß diese noch leicht in andern bösen verdacht eben darüber
kommen/ weil sie nicht in den gemeinen hauffen der heuchler mit hinlauffen. Daß
um der ältesten auffsetze willen GOttes gebot auffgehoben werde/ ist so gar nichts
neues/ daß wenig stücke sind in der übung unsers Christenthums/ darinnen solches
nicht gefunden wird/ ja wie offt werden auch in glaubens-sachen menschen-mei-
nungen und au sle gungen göttlichem wort vorgezogen/ und wird dieses kaum an-
ders als so fern es mit jenen übereinkommt angenommen. Am betrübtsten ists/ daß
ich der sache in sgemein keine hülffe nicht sehe/ sondern der gebrauch das jenige/ was
die regel seyn solte erst nach andern zu reguliren/ so eingerissen ist/ daß wo nicht Gott
solche mittelze iget/ die jetzo noch nicht vorgesehen werden können/ der schade der kir-

chen

Das ſechſte Capitel.
wolte. Jndeſſen wuͤrde ich mich ſchaͤmen/ als offt ich ſie tochter nennen wuͤrde/
weil ich deroſelben vaters treue zu erweiſen nicht vermoͤge noch je vermocht habe
(worin ich mich beruffe auff Pauli wort 1. Cor. 4/ 15.) ſondern wird ſie den auch
liebreichen ſchweſter-nahmen/ als den jenigen/ welcher der eigentlichſte iſt/ der ihr
von mir gebuͤhret/ ihr wohlgefallen laſſen. Jch ſetze auch nichts bey von andern
noch etwa weltlichen titeln/ die ich zwar nicht bloß dahin verwerffe/ aber eine ſolche
vertraulichkeit unter uns Chriſten wuͤnſchete/ daß wir von jenen nicht groſſen ſtat
machten/ ſondern auch damit bezeugten/ daß wir das geiſtliche vor das hoͤchſte gut/
und dieſelbe ehr vor die hoͤchſte ehre/ halten/ wo wir uns uͤber die jenige nahmen vor-
nehmlich freuten/ und dero gern gebrauchten/ die aus ſolchen geiſtlichen reſpe-
ct
en unter uns entſtehen/ und von aller weltlichen eitelkeit entfernet ſind. Jch
muß zwar auch ins gemein andere titul annehmen und geben/ daß beydes offt nicht
ohne betruͤbnuͤß geſchiehet/ weil die jenige betruͤbte zeit es nicht anders mit ſich
bringet/ und eine ſonderlichkeit wider den allgemeinen gebrauch darinnen zu weiſen/
andern ungleichen verdacht leider bey vielen auch eben nicht boͤſen gemuͤthern na[c]h
ſich ziehen/ und beſorglich nur mehr uͤbels verurſachen wuͤrde. Daher wir ob
zwar ſonſten in ſachen/ die allerdings goͤttlichem gebot entgegen ſind/ der welt uns
nicht gleichfoͤrmig ſtellen/ dennoch in etlichen euſſerlichen/ und an ſich ſelbs nicht
ſuͤndlichen dingen dem gemeinen gebrauch weichen duͤrffen und muͤſſen/ und alſo
nicht allezeit thun/ was an ſich ſelbs ohne betrachtung der zeiten das beſte waͤre/ ſon-
dern was gegenwaͤrtige zeit ertragen mag. Aber ach wie erfreulich ſolte mirs ſeyn/
wo wir auch hierinnen weniger gebunden waͤren. Auffs wenigſte iſt mir dieſes
vergnuͤglich/ gegen die jenige/ welche dergleichen von mir willig annehmen/ in der
freyheit einherzugehen/ wie ich bey allen zu ſeyn wuͤnſchete. Jhre fuͤhrende kla-
ge uͤber das jenige/ was ſie taͤglich vor augen ſehen muß/ iſt auch meiner und ande-
rer guter gemuͤther taͤgliche betruͤbnuͤß: Wo wir gedencken/ wie es ſo gar ſchwehr
werde unter ſo groſſem hauffen deren/ die ſich alle von CHriſio ruͤhmen/ etwa ein und
andern anzutreffen/ der auch darinnen ſich einen Chriſten zu ſeyn thaͤtlich bezeigte/
daß er ſein einiges anligen ſeyn lieſſe/ allein nach den willen und exempel ſeines Hei-
landes zu leben: ja daß dieſe noch leicht in andern boͤſen verdacht eben daruͤber
kommen/ weil ſie nicht in den gemeinen hauffen der heuchler mit hinlauffen. Daß
um der aͤlteſten auffſetze willen GOttes gebot auffgehoben werde/ iſt ſo gar nichts
neues/ daß wenig ſtuͤcke ſind in der uͤbung unſers Chriſtenthums/ darinnen ſolches
nicht gefunden wird/ ja wie offt werden auch in glaubens-ſachen menſchen-mei-
nungen und au sle gungen goͤttlichem wort vorgezogen/ und wird dieſes kaum an-
ders als ſo fern es mit jenen uͤbereinkom̃t angenommen. Am betruͤbtſten iſts/ daß
ich der ſache in sgemein keine huͤlffe nicht ſehe/ ſondern der gebrauch das jenige/ was
die regel ſeyn ſolte erſt nach andern zu reguliren/ ſo eingeriſſen iſt/ daß wo nicht Gott
ſolche mittelze iget/ die jetzo noch nicht vorgeſehen werden koͤnnen/ der ſchade der kir-

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[74/0092] Das ſechſte Capitel. wolte. Jndeſſen wuͤrde ich mich ſchaͤmen/ als offt ich ſie tochter nennen wuͤrde/ weil ich deroſelben vaters treue zu erweiſen nicht vermoͤge noch je vermocht habe (worin ich mich beruffe auff Pauli wort 1. Cor. 4/ 15.) ſondern wird ſie den auch liebreichen ſchweſter-nahmen/ als den jenigen/ welcher der eigentlichſte iſt/ der ihr von mir gebuͤhret/ ihr wohlgefallen laſſen. Jch ſetze auch nichts bey von andern noch etwa weltlichen titeln/ die ich zwar nicht bloß dahin verwerffe/ aber eine ſolche vertraulichkeit unter uns Chriſten wuͤnſchete/ daß wir von jenen nicht groſſen ſtat machten/ ſondern auch damit bezeugten/ daß wir das geiſtliche vor das hoͤchſte gut/ und dieſelbe ehr vor die hoͤchſte ehre/ halten/ wo wir uns uͤber die jenige nahmen vor- nehmlich freuten/ und dero gern gebrauchten/ die aus ſolchen geiſtlichen reſpe- cten unter uns entſtehen/ und von aller weltlichen eitelkeit entfernet ſind. Jch muß zwar auch ins gemein andere titul annehmen und geben/ daß beydes offt nicht ohne betruͤbnuͤß geſchiehet/ weil die jenige betruͤbte zeit es nicht anders mit ſich bringet/ und eine ſonderlichkeit wider den allgemeinen gebrauch darinnen zu weiſen/ andern ungleichen verdacht leider bey vielen auch eben nicht boͤſen gemuͤthern nach ſich ziehen/ und beſorglich nur mehr uͤbels verurſachen wuͤrde. Daher wir ob zwar ſonſten in ſachen/ die allerdings goͤttlichem gebot entgegen ſind/ der welt uns nicht gleichfoͤrmig ſtellen/ dennoch in etlichen euſſerlichen/ und an ſich ſelbs nicht ſuͤndlichen dingen dem gemeinen gebrauch weichen duͤrffen und muͤſſen/ und alſo nicht allezeit thun/ was an ſich ſelbs ohne betrachtung der zeiten das beſte waͤre/ ſon- dern was gegenwaͤrtige zeit ertragen mag. Aber ach wie erfreulich ſolte mirs ſeyn/ wo wir auch hierinnen weniger gebunden waͤren. Auffs wenigſte iſt mir dieſes vergnuͤglich/ gegen die jenige/ welche dergleichen von mir willig annehmen/ in der freyheit einherzugehen/ wie ich bey allen zu ſeyn wuͤnſchete. Jhre fuͤhrende kla- ge uͤber das jenige/ was ſie taͤglich vor augen ſehen muß/ iſt auch meiner und ande- rer guter gemuͤther taͤgliche betruͤbnuͤß: Wo wir gedencken/ wie es ſo gar ſchwehr werde unter ſo groſſem hauffen deren/ die ſich alle von CHriſio ruͤhmen/ etwa ein und andern anzutreffen/ der auch darinnen ſich einen Chriſten zu ſeyn thaͤtlich bezeigte/ daß er ſein einiges anligen ſeyn lieſſe/ allein nach den willen und exempel ſeines Hei- landes zu leben: ja daß dieſe noch leicht in andern boͤſen verdacht eben daruͤber kommen/ weil ſie nicht in den gemeinen hauffen der heuchler mit hinlauffen. Daß um der aͤlteſten auffſetze willen GOttes gebot auffgehoben werde/ iſt ſo gar nichts neues/ daß wenig ſtuͤcke ſind in der uͤbung unſers Chriſtenthums/ darinnen ſolches nicht gefunden wird/ ja wie offt werden auch in glaubens-ſachen menſchen-mei- nungen und au sle gungen goͤttlichem wort vorgezogen/ und wird dieſes kaum an- ders als ſo fern es mit jenen uͤbereinkom̃t angenommen. Am betruͤbtſten iſts/ daß ich der ſache in sgemein keine huͤlffe nicht ſehe/ ſondern der gebrauch das jenige/ was die regel ſeyn ſolte erſt nach andern zu reguliren/ ſo eingeriſſen iſt/ daß wo nicht Gott ſolche mittelze iget/ die jetzo noch nicht vorgeſehen werden koͤnnen/ der ſchade der kir- chen

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken03_1702/92>, abgerufen am 23.11.2024.