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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702.

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ARTIC. I. DISTINCTIO I. SECTIO XV.
müssen. Ach wolte GOTT das fasten und einige dergleichen löbliche übungen
würden fleißiger practiciret/ so würden wir offt zu den innerlichen übungen tüchti-
ge[r] werden. So verstehen die jenige nicht/ was wir an dem Päpstischen straffen/
welche meinen daß es um das fasten selbs zu thun seye/ da wir doch allein das ein-
bildende verdienst desselben/ so dann den unterscheid der speisen bestreiten/ als
welchen wir vor kein fasten erkennen können. Was meine liebste schwester ge-
dencket wegen der gedult/ so mit denen noch schwachen zutragen/ ist ein gantz nöthi-
ger punct unsers Christenthums/ der deßhalben von Paulo so offt getrieben wird. Es
ist solches die frucht des glaubens/ der erkennt/ mit was gedult der barmhertzige
Vater in dem himmel seine schwachheit trage/ und ein zeugnüß der demuth und
liebe/ ohne welche kein glaube seyn kan. Denn wer seinen bruder oder schwester/
welche schwach sind/ darüber urtheilet oder verachtet/ der muß nicht erkennen daß
er auch dergleichen von andern bedürffe/ sondern in hochmuth sich selbs vor vollkom-
men achten/ und also gefallen an ihm selbs tragen/ ja das jenige das an ihm ist/
nicht als ein pur lauter gnaden geschenck/ sondern eigen werck achten/ welches dem
glauben schnur stracks entgegegen ist. So lehret uns die liebe/ mit denjenigen/
welche an dem leib schwächlich sind/ mitleiden haben/ und uns vielmehr ihrer an zu-
nehmen/ ihnen zu rathen und zu helffen als sie zuverspotten oder eckel an ihnen zu ha-
ben. Wie viel mehr erfordert dann die liebe eben dergleichen gegen die jenige/ die
an der seele schwach sind? Daß man nehmlich nicht nur vor sie inbrünstig bete/
sondern auch am freundlichsten mit ihnen umgehe/ ihrer schohne/ sie zu bessern suche/
und solches mit der behutsamkeit und sanfftmuth/ daß man sie nicht mit erstmahli-
ger vorstellung alles dessen/ so man von ihnen erfordert/ in dem anfang erschrecke/
oder ihnen ihre noch habende fehler scharff vorhalte/ sondern sie allgemach weiter
führe/ und in vielen stücken sie mehr dazu leite/ worinnen sie ihre eigene unvoll-
kommenheit an sich erkennen möchten/ als daß es schiene/ wir hätten ihnen solches
gezeiget. Solches ist die rechte art der liebe/ die wir ihnen um des HErrn willen
schuldig sind/ ja auch um des nutzens willen/ den wir selbs an ihrer schwachheit ha-
ben/ daran die unsrige in solchem spiegel so viel besser erkennen können. Daß mei-
ne liebe schwester sich erklähret/ zwar ein hertzliches verlangen nach der endlichen
versetzung in die vollkommene freyheit der kinder GOttes zu haben/ aber doch mit
williger gelassenheit sich auch ein länger es verbleiben in den beschwehrlichen hütten
Kedar nicht lässt zu wieder seyn/ vielmehr um des lieben creutzes willen in dem fleisch
länger zu leben beliebet/ hat mich und einige fromme seelen/ deren ich solches ver-
langen vorgezeiget/ hertzlich erfreuet/ und erkenne ich daran das jenige/ darnach
wir uns alle zubestreben haben/ aber schwächlich oder gar spat darzu kommen. Und
gehöret zu einer solchen resolution/ daß man in dem sie über das fleisch weit ge-
kommen seye/ wo wir nunmehr die vortrefflichkeit und den adel des lieben creutzes
also in das hertz getruckt/ daß wir es gar nicht mehr nach dem urtheil der vernunfft

(nach
L 3

ARTIC. I. DISTINCTIO I. SECTIO XV.
muͤſſen. Ach wolte GOTT das faſten und einige dergleichen loͤbliche uͤbungen
wuͤrden fleißiger practiciret/ ſo wuͤrden wir offt zu den innerlichen uͤbungen tuͤchti-
ge[r] werden. So verſtehen die jenige nicht/ was wir an dem Paͤpſtiſchen ſtraffen/
welche meinen daß es um das faſten ſelbs zu thun ſeye/ da wir doch allein das ein-
bildende verdienſt deſſelben/ ſo dann den unterſcheid der ſpeiſen beſtreiten/ als
welchen wir vor kein faſten erkennen koͤnnen. Was meine liebſte ſchweſter ge-
dencket wegen der gedult/ ſo mit denen noch ſchwachen zutragen/ iſt ein gantz noͤthi-
ger punct unſers Chriſtenthums/ der deßhalben von Paulo ſo offt getrieben wird. Es
iſt ſolches die frucht des glaubens/ der erkennt/ mit was gedult der barmhertzige
Vater in dem himmel ſeine ſchwachheit trage/ und ein zeugnuͤß der demuth und
liebe/ ohne welche kein glaube ſeyn kan. Denn wer ſeinen bruder oder ſchweſter/
welche ſchwach ſind/ daruͤber urtheilet oder verachtet/ der muß nicht erkennen daß
er auch dergleichen von andern beduͤrffe/ ſondern in hochmuth ſich ſelbs vor vollkom-
men achten/ und alſo gefallen an ihm ſelbs tragen/ ja das jenige das an ihm iſt/
nicht als ein pur lauter gnaden geſchenck/ ſondern eigen werck achten/ welches dem
glauben ſchnur ſtracks entgegegen iſt. So lehret uns die liebe/ mit denjenigen/
welche an dem leib ſchwaͤchlich ſind/ mitleiden haben/ und uns vielmehr ihrer an zu-
nehmen/ ihnen zu rathen und zu helffen als ſie zuverſpotten oder eckel an ihnen zu ha-
ben. Wie viel mehr erfordert dann die liebe eben dergleichen gegen die jenige/ die
an der ſeele ſchwach ſind? Daß man nehmlich nicht nur vor ſie inbruͤnſtig bete/
ſondern auch am freundlichſten mit ihnen umgehe/ ihrer ſchohne/ ſie zu beſſern ſuche/
und ſolches mit der behutſamkeit und ſanfftmuth/ daß man ſie nicht mit erſtmahli-
ger vorſtellung alles deſſen/ ſo man von ihnen erfordert/ in dem anfang erſchrecke/
oder ihnen ihre noch habende fehler ſcharff vorhalte/ ſondern ſie allgemach weiter
fuͤhre/ und in vielen ſtuͤcken ſie mehr dazu leite/ worinnen ſie ihre eigene unvoll-
kommenheit an ſich erkennen moͤchten/ als daß es ſchiene/ wir haͤtten ihnen ſolches
gezeiget. Solches iſt die rechte art der liebe/ die wir ihnen um des HErrn willen
ſchuldig ſind/ ja auch um des nutzens willen/ den wir ſelbs an ihrer ſchwachheit ha-
ben/ daran die unſrige in ſolchem ſpiegel ſo viel beſſer erkennen koͤnnen. Daß mei-
ne liebe ſchweſter ſich erklaͤhret/ zwar ein hertzliches verlangen nach der endlichen
verſetzung in die vollkommene freyheit der kinder GOttes zu haben/ aber doch mit
williger gelaſſenheit ſich auch ein laͤnger es verbleiben in den beſchwehrlichen huͤtten
Kedar nicht laͤſſt zu wieder ſeyn/ vielmehr um des lieben creutzes willen in dem fleiſch
laͤnger zu leben beliebet/ hat mich und einige fromme ſeelen/ deren ich ſolches ver-
langen vorgezeiget/ hertzlich erfreuet/ und erkenne ich daran das jenige/ darnach
wir uns alle zubeſtreben haben/ aber ſchwaͤchlich oder gar ſpat darzu kommen. Und
gehoͤret zu einer ſolchen reſolution/ daß man in dem ſie uͤber das fleiſch weit ge-
kommen ſeye/ wo wir nunmehr die vortrefflichkeit und den adel des lieben creutzes
alſo in das hertz getruckt/ daß wir es gar nicht mehr nach dem urtheil der vernunfft

(nach
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[85/0103] ARTIC. I. DISTINCTIO I. SECTIO XV. muͤſſen. Ach wolte GOTT das faſten und einige dergleichen loͤbliche uͤbungen wuͤrden fleißiger practiciret/ ſo wuͤrden wir offt zu den innerlichen uͤbungen tuͤchti- ger werden. So verſtehen die jenige nicht/ was wir an dem Paͤpſtiſchen ſtraffen/ welche meinen daß es um das faſten ſelbs zu thun ſeye/ da wir doch allein das ein- bildende verdienſt deſſelben/ ſo dann den unterſcheid der ſpeiſen beſtreiten/ als welchen wir vor kein faſten erkennen koͤnnen. Was meine liebſte ſchweſter ge- dencket wegen der gedult/ ſo mit denen noch ſchwachen zutragen/ iſt ein gantz noͤthi- ger punct unſers Chriſtenthums/ der deßhalben von Paulo ſo offt getrieben wird. Es iſt ſolches die frucht des glaubens/ der erkennt/ mit was gedult der barmhertzige Vater in dem himmel ſeine ſchwachheit trage/ und ein zeugnuͤß der demuth und liebe/ ohne welche kein glaube ſeyn kan. Denn wer ſeinen bruder oder ſchweſter/ welche ſchwach ſind/ daruͤber urtheilet oder verachtet/ der muß nicht erkennen daß er auch dergleichen von andern beduͤrffe/ ſondern in hochmuth ſich ſelbs vor vollkom- men achten/ und alſo gefallen an ihm ſelbs tragen/ ja das jenige das an ihm iſt/ nicht als ein pur lauter gnaden geſchenck/ ſondern eigen werck achten/ welches dem glauben ſchnur ſtracks entgegegen iſt. So lehret uns die liebe/ mit denjenigen/ welche an dem leib ſchwaͤchlich ſind/ mitleiden haben/ und uns vielmehr ihrer an zu- nehmen/ ihnen zu rathen und zu helffen als ſie zuverſpotten oder eckel an ihnen zu ha- ben. Wie viel mehr erfordert dann die liebe eben dergleichen gegen die jenige/ die an der ſeele ſchwach ſind? Daß man nehmlich nicht nur vor ſie inbruͤnſtig bete/ ſondern auch am freundlichſten mit ihnen umgehe/ ihrer ſchohne/ ſie zu beſſern ſuche/ und ſolches mit der behutſamkeit und ſanfftmuth/ daß man ſie nicht mit erſtmahli- ger vorſtellung alles deſſen/ ſo man von ihnen erfordert/ in dem anfang erſchrecke/ oder ihnen ihre noch habende fehler ſcharff vorhalte/ ſondern ſie allgemach weiter fuͤhre/ und in vielen ſtuͤcken ſie mehr dazu leite/ worinnen ſie ihre eigene unvoll- kommenheit an ſich erkennen moͤchten/ als daß es ſchiene/ wir haͤtten ihnen ſolches gezeiget. Solches iſt die rechte art der liebe/ die wir ihnen um des HErrn willen ſchuldig ſind/ ja auch um des nutzens willen/ den wir ſelbs an ihrer ſchwachheit ha- ben/ daran die unſrige in ſolchem ſpiegel ſo viel beſſer erkennen koͤnnen. Daß mei- ne liebe ſchweſter ſich erklaͤhret/ zwar ein hertzliches verlangen nach der endlichen verſetzung in die vollkommene freyheit der kinder GOttes zu haben/ aber doch mit williger gelaſſenheit ſich auch ein laͤnger es verbleiben in den beſchwehrlichen huͤtten Kedar nicht laͤſſt zu wieder ſeyn/ vielmehr um des lieben creutzes willen in dem fleiſch laͤnger zu leben beliebet/ hat mich und einige fromme ſeelen/ deren ich ſolches ver- langen vorgezeiget/ hertzlich erfreuet/ und erkenne ich daran das jenige/ darnach wir uns alle zubeſtreben haben/ aber ſchwaͤchlich oder gar ſpat darzu kommen. Und gehoͤret zu einer ſolchen reſolution/ daß man in dem ſie uͤber das fleiſch weit ge- kommen ſeye/ wo wir nunmehr die vortrefflichkeit und den adel des lieben creutzes alſo in das hertz getruckt/ daß wir es gar nicht mehr nach dem urtheil der vernunfft (nach L 3

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken03_1702/103>, abgerufen am 24.11.2024.