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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700.

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oder nicht. Diesem allen mag nun unterschiedliches entgegen gehalten wer-
den/ wie man dergleichen offt höret. 1. Alle neuerungen seyn mißlich/
und daher lieber zu unterlaßen.
Darauff aber leicht zu antworten/
daß eine jede neuerung vorher in der forcht Gottes reifflich überlegt werden
muß/ wie wir bald melden wollen/ und freylich nicht eingeführet werden sol-
le/ wo daher gefahr entstehen solte/ und man nicht wichtigen nutzen vorsihet.
Solte aber der satz ohnbedingt angenommen werden/ so fället nicht nur aller
sonsten mügliche wachsthum in mehrerem guten/ sondern wo eine kirche ie-
mahl zu einem verfall gekommen/ ist deroselben nicht weiter zu helffen/ dann
dieses kan nicht geschehen/ wo man sie in einer solchen unordnung läßet; also
ist eine neuerung nöthig/ die doch dieser einwurff bloß dahin verbeut.
2. Die alte seyn auch nicht kinder noch thoren gewesen/ so solten wir
nicht klüger wollen seyn in neuen anstalten/ vielmehr alles bey dem
ihrigen laßen stehen; wie sie dann selig worden/ würden wir auch
selig werden.
Es ist auch diese objection nicht von gleichen kräfften als
ansehen. Der lieben alten verstand und treue ziehen wir nicht in zweiffel/
wo sie aber selber solten gefragt worden seyn/ hoffen wir/ sie solten dergleichen
hochmuth nicht von sich haben sehen lassen/ daß sie gemeinet/ es könne nichts
desjenigen verbessert werden/ was sie gehabt und angeordnet/ daher diejeni-
ge/ welche mit diesem argument vor die ehre der antecessorum eiffern wol-
len/ sie vielmehr damit beschimpffeten/ da sie ihnen dergleichen mißgunst ge-
gen alle besserung/ einbildung der vollkommenheit/ und eigensinn auff dem
ihrigen allein zubeharren/ zuschreiben wollen. Vielmehr gibt uns ihr eigen
exempel eine mehrere macht/ dann wie sie manches auch erst eingeführet ha-
ben/ und eine jegliche von ihnen geschehene anordnung von ihnen selbs ge-
macht/ wird nicht dahin abgezwecket haben/ oder von ihnen also angesehen
seyn worden/ als solten damit ihre voreltern beschimpffet werden (wie dann
jedesmal solcher vorwurff von gleicher gültigkeit seyn müßte) also würden
sie auch künfftige bessere anstalten/ wann einige dermaleins würden gefun-
den werden/ nicht haben verwehren/ oder sich über eine dadurch zufügende
verkleinerung beschwehren/ und damit den nachkömmlingen alle fernere bes-
serung verbieten wollen. Der klügste mann weiß/ und je klüger er ist/ je mehr
erkennet er die wahrheit dessen/ daß keiner alles allein sehe/ noch viel weniger
in dem künfftigen alles vorsehen könne; so ist die zeit die jenige/ welche man-
ches erst entdecket/ und an die hand gibet/ daß also durch die erfahrung mehr
als durch tieffstes nachsinnen ausgerichtet wird. Dabey die gedächtnüß der
alten in schuldiger veneration bleibet/ ja ihre meriten um die kirche vermeh-
ret werden/ wo man ihre gute anstalten durch weitere verbesserung und zu-

sä-

Das andere Capitel.
oder nicht. Dieſem allen mag nun unterſchiedliches entgegen gehalten wer-
den/ wie man dergleichen offt hoͤret. 1. Alle neuerungen ſeyn mißlich/
und daher lieber zu unterlaßen.
Darauff aber leicht zu antworten/
daß eine jede neuerung vorher in der forcht Gottes reifflich uͤberlegt werden
muß/ wie wir bald melden wollen/ und freylich nicht eingefuͤhret werden ſol-
le/ wo daher gefahr entſtehen ſolte/ und man nicht wichtigen nutzen vorſihet.
Solte aber der ſatz ohnbedingt angenommen werden/ ſo faͤllet nicht nur aller
ſonſten muͤgliche wachsthum in mehrerem guten/ ſondern wo eine kirche ie-
mahl zu einem verfall gekommen/ iſt deroſelben nicht weiter zu helffen/ dann
dieſes kan nicht geſchehen/ wo man ſie in einer ſolchen unordnung laͤßet; alſo
iſt eine neuerung noͤthig/ die doch dieſer einwurff bloß dahin verbeut.
2. Die alte ſeyn auch nicht kinder noch thoren geweſen/ ſo ſolten wir
nicht kluͤger wollen ſeyn in neuen anſtalten/ vielmehr alles bey dem
ihrigen laßen ſtehen; wie ſie dann ſelig worden/ wuͤrden wir auch
ſelig werden.
Es iſt auch dieſe objection nicht von gleichen kraͤfften als
anſehen. Der lieben alten verſtand und treue ziehen wir nicht in zweiffel/
wo ſie aber ſelber ſolten gefragt worden ſeyn/ hoffen wir/ ſie ſolten dergleichen
hochmuth nicht von ſich haben ſehen laſſen/ daß ſie gemeinet/ es koͤnne nichts
desjenigen verbeſſert werden/ was ſie gehabt und angeordnet/ daher diejeni-
ge/ welche mit dieſem argument vor die ehre der anteceſſorum eiffern wol-
len/ ſie vielmehr damit beſchimpffeten/ da ſie ihnen dergleichen mißgunſt ge-
gen alle beſſerung/ einbildung der vollkommenheit/ und eigenſinn auff dem
ihrigen allein zubeharren/ zuſchreiben wollen. Vielmehr gibt uns ihr eigen
exempel eine mehrere macht/ dann wie ſie manches auch erſt eingefuͤhret ha-
ben/ und eine jegliche von ihnen geſchehene anordnung von ihnen ſelbs ge-
macht/ wird nicht dahin abgezwecket haben/ oder von ihnen alſo angeſehen
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jedesmal ſolcher vorwurff von gleicher guͤltigkeit ſeyn muͤßte) alſo wuͤrden
ſie auch kuͤnfftige beſſere anſtalten/ wann einige dermaleins wuͤrden gefun-
den werden/ nicht haben verwehren/ oder ſich uͤber eine dadurch zufuͤgende
verkleinerung beſchwehren/ und damit den nachkoͤmmlingen alle fernere beſ-
ſerung verbieten wollen. Der kluͤgſte mann weiß/ und je kluͤger er iſt/ je mehr
erkennet er die wahrheit deſſen/ daß keiner alles allein ſehe/ noch viel weniger
in dem kuͤnfftigen alles vorſehen koͤnne; ſo iſt die zeit die jenige/ welche man-
ches erſt entdecket/ und an die hand gibet/ daß alſo durch die erfahrung mehr
als durch tieffſtes nachſinnen ausgerichtet wird. Dabey die gedaͤchtnuͤß der
alten in ſchuldiger veneration bleibet/ ja ihre meriten um die kirche vermeh-
ret werden/ wo man ihre gute anſtalten durch weitere verbeſſerung und zu-

ſaͤ-
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[658/0674] Das andere Capitel. oder nicht. Dieſem allen mag nun unterſchiedliches entgegen gehalten wer- den/ wie man dergleichen offt hoͤret. 1. Alle neuerungen ſeyn mißlich/ und daher lieber zu unterlaßen. Darauff aber leicht zu antworten/ daß eine jede neuerung vorher in der forcht Gottes reifflich uͤberlegt werden muß/ wie wir bald melden wollen/ und freylich nicht eingefuͤhret werden ſol- le/ wo daher gefahr entſtehen ſolte/ und man nicht wichtigen nutzen vorſihet. Solte aber der ſatz ohnbedingt angenommen werden/ ſo faͤllet nicht nur aller ſonſten muͤgliche wachsthum in mehrerem guten/ ſondern wo eine kirche ie- mahl zu einem verfall gekommen/ iſt deroſelben nicht weiter zu helffen/ dann dieſes kan nicht geſchehen/ wo man ſie in einer ſolchen unordnung laͤßet; alſo iſt eine neuerung noͤthig/ die doch dieſer einwurff bloß dahin verbeut. 2. Die alte ſeyn auch nicht kinder noch thoren geweſen/ ſo ſolten wir nicht kluͤger wollen ſeyn in neuen anſtalten/ vielmehr alles bey dem ihrigen laßen ſtehen; wie ſie dann ſelig worden/ wuͤrden wir auch ſelig werden. Es iſt auch dieſe objection nicht von gleichen kraͤfften als anſehen. Der lieben alten verſtand und treue ziehen wir nicht in zweiffel/ wo ſie aber ſelber ſolten gefragt worden ſeyn/ hoffen wir/ ſie ſolten dergleichen hochmuth nicht von ſich haben ſehen laſſen/ daß ſie gemeinet/ es koͤnne nichts desjenigen verbeſſert werden/ was ſie gehabt und angeordnet/ daher diejeni- ge/ welche mit dieſem argument vor die ehre der anteceſſorum eiffern wol- len/ ſie vielmehr damit beſchimpffeten/ da ſie ihnen dergleichen mißgunſt ge- gen alle beſſerung/ einbildung der vollkommenheit/ und eigenſinn auff dem ihrigen allein zubeharren/ zuſchreiben wollen. Vielmehr gibt uns ihr eigen exempel eine mehrere macht/ dann wie ſie manches auch erſt eingefuͤhret ha- ben/ und eine jegliche von ihnen geſchehene anordnung von ihnen ſelbs ge- macht/ wird nicht dahin abgezwecket haben/ oder von ihnen alſo angeſehen ſeyn worden/ als ſolten damit ihre voreltern beſchimpffet werden (wie dann jedesmal ſolcher vorwurff von gleicher guͤltigkeit ſeyn muͤßte) alſo wuͤrden ſie auch kuͤnfftige beſſere anſtalten/ wann einige dermaleins wuͤrden gefun- den werden/ nicht haben verwehren/ oder ſich uͤber eine dadurch zufuͤgende verkleinerung beſchwehren/ und damit den nachkoͤmmlingen alle fernere beſ- ſerung verbieten wollen. Der kluͤgſte mann weiß/ und je kluͤger er iſt/ je mehr erkennet er die wahrheit deſſen/ daß keiner alles allein ſehe/ noch viel weniger in dem kuͤnfftigen alles vorſehen koͤnne; ſo iſt die zeit die jenige/ welche man- ches erſt entdecket/ und an die hand gibet/ daß alſo durch die erfahrung mehr als durch tieffſtes nachſinnen ausgerichtet wird. Dabey die gedaͤchtnuͤß der alten in ſchuldiger veneration bleibet/ ja ihre meriten um die kirche vermeh- ret werden/ wo man ihre gute anſtalten durch weitere verbeſſerung und zu- ſaͤ-

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle (Saale), 1700, S. 658. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken01_1700/674>, abgerufen am 01.09.2024.