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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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füllen, die die zuerst auftretenden erregt haben. Diese mögen so
phantastisch, willkürlich, irreal sein, wie sie wollen; sobald ihre Fort-
setzungen sich zu ihnen harmonisch, zusammenhängend, weiterführend ver-
halten, wird das Ganze den Eindruck der "inneren Wahrheit" erzeugen,
gleichviel ob irgend ein einzelner Teil desselben sich mit einer ihm
äusseren Realität deckt und damit dem Anspruch auf "Wahrheit" im
gewöhnlichen und substanziellen Sinne genügt oder nicht. Die Wahr-
heit des Kunstwerkes bedeutet, dass es als Ganzes das Versprechen
einlöst, das ein Teil seiner uns gleichsam freiwillig gegeben hat --
und zwar jeder beliebige, da eben die Gegenseitigkeit des Sich-
entsprechens jedem einzelnen die Qualität der Wahrheit verschafft.
Auch in der besonderen Nüance des Künstlerischen ist also Wahrheit
ein Relationsbegriff, sie realisiert sich als ein Verhältnis der Elemente
des Kunstwerkes untereinander, und nicht als eine starre Gleichheit
zwischen jedem derselben und einem ihm äusseren Objekt, das seine
absolute Norm bilde.

Von anderer Seite her auf dasselbe Ziel zuschreitend, kann man
den Relativismus in Hinsicht der Erkenntnisprinzipien so formulieren:
dass die konstitutiven, das Wesen der Dinge ein- für allemal aus-
drückenden Grundsätze in regulative übergehen, die nur Augenpunkte
für das fortschreitende Erkennen sind. Grade die letzten und höchsten
Abstraktionen, Vereinfachungen oder Zusammenfassungen des Denkens
müssen den dogmatischen Anspruch aufgeben, das Erkennen ab-
zuschliessen -- und der subjektive Abschluss desselben würde doch
seinen Sinn und sein Recht nur an der objektiven Gültigkeit seines
Inhaltes haben. An die Stelle der Behauptung: so und so verhalten
sich die Dinge -- hat in Hinsicht der äussersten und allgemeinsten
Ansichten vielmehr die zu treten: unser Erkennen hat so zu ver-
fahren, als ob sich die Dinge so und so verhielten. Damit ist die
Möglichkeit gegeben, Art und Weg unseres Erkennens sein wirkliches
Verhältnis zur Welt sehr adäquat ausdrücken zu lassen. Der Viel-
heit unserer Wesensseiten sowie der abhülfesuchenden Einseitigkeit
jedes einzelnen begrifflichen Ausdrucks für unsere Beziehung zu den
Dingen entspricht und entspringt es, dass kein derartiger Ausdruck
allgemein und auf die Dauer befriedigt, vielmehr historisch seine Er-
gänzung durch eine gegenteilige Behauptung zu finden pflegt; wodurch
in unzähligen Einzelnen ein unsicheres Hin- und Herpendeln, ein
widerspruchsvolles Gemenge oder eine Abneigung gegen umfassende
Grundsätze überhaupt erzeugt wird. Wenn nun die konstitutiven Be-
hauptungen, die das Wesen der Dinge festlegen wollen, in heuristische
verwandelt werden, die nur unsere Erkenntniswege durch Feststellung

füllen, die die zuerst auftretenden erregt haben. Diese mögen so
phantastisch, willkürlich, irreal sein, wie sie wollen; sobald ihre Fort-
setzungen sich zu ihnen harmonisch, zusammenhängend, weiterführend ver-
halten, wird das Ganze den Eindruck der „inneren Wahrheit“ erzeugen,
gleichviel ob irgend ein einzelner Teil desselben sich mit einer ihm
äuſseren Realität deckt und damit dem Anspruch auf „Wahrheit“ im
gewöhnlichen und substanziellen Sinne genügt oder nicht. Die Wahr-
heit des Kunstwerkes bedeutet, daſs es als Ganzes das Versprechen
einlöst, das ein Teil seiner uns gleichsam freiwillig gegeben hat —
und zwar jeder beliebige, da eben die Gegenseitigkeit des Sich-
entsprechens jedem einzelnen die Qualität der Wahrheit verschafft.
Auch in der besonderen Nüance des Künstlerischen ist also Wahrheit
ein Relationsbegriff, sie realisiert sich als ein Verhältnis der Elemente
des Kunstwerkes untereinander, und nicht als eine starre Gleichheit
zwischen jedem derselben und einem ihm äuſseren Objekt, das seine
absolute Norm bilde.

Von anderer Seite her auf dasselbe Ziel zuschreitend, kann man
den Relativismus in Hinsicht der Erkenntnisprinzipien so formulieren:
daſs die konstitutiven, das Wesen der Dinge ein- für allemal aus-
drückenden Grundsätze in regulative übergehen, die nur Augenpunkte
für das fortschreitende Erkennen sind. Grade die letzten und höchsten
Abstraktionen, Vereinfachungen oder Zusammenfassungen des Denkens
müssen den dogmatischen Anspruch aufgeben, das Erkennen ab-
zuschlieſsen — und der subjektive Abschluſs desselben würde doch
seinen Sinn und sein Recht nur an der objektiven Gültigkeit seines
Inhaltes haben. An die Stelle der Behauptung: so und so verhalten
sich die Dinge — hat in Hinsicht der äuſsersten und allgemeinsten
Ansichten vielmehr die zu treten: unser Erkennen hat so zu ver-
fahren, als ob sich die Dinge so und so verhielten. Damit ist die
Möglichkeit gegeben, Art und Weg unseres Erkennens sein wirkliches
Verhältnis zur Welt sehr adäquat ausdrücken zu lassen. Der Viel-
heit unserer Wesensseiten sowie der abhülfesuchenden Einseitigkeit
jedes einzelnen begrifflichen Ausdrucks für unsere Beziehung zu den
Dingen entspricht und entspringt es, daſs kein derartiger Ausdruck
allgemein und auf die Dauer befriedigt, vielmehr historisch seine Er-
gänzung durch eine gegenteilige Behauptung zu finden pflegt; wodurch
in unzähligen Einzelnen ein unsicheres Hin- und Herpendeln, ein
widerspruchsvolles Gemenge oder eine Abneigung gegen umfassende
Grundsätze überhaupt erzeugt wird. Wenn nun die konstitutiven Be-
hauptungen, die das Wesen der Dinge festlegen wollen, in heuristische
verwandelt werden, die nur unsere Erkenntniswege durch Feststellung

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[68/0092] füllen, die die zuerst auftretenden erregt haben. Diese mögen so phantastisch, willkürlich, irreal sein, wie sie wollen; sobald ihre Fort- setzungen sich zu ihnen harmonisch, zusammenhängend, weiterführend ver- halten, wird das Ganze den Eindruck der „inneren Wahrheit“ erzeugen, gleichviel ob irgend ein einzelner Teil desselben sich mit einer ihm äuſseren Realität deckt und damit dem Anspruch auf „Wahrheit“ im gewöhnlichen und substanziellen Sinne genügt oder nicht. Die Wahr- heit des Kunstwerkes bedeutet, daſs es als Ganzes das Versprechen einlöst, das ein Teil seiner uns gleichsam freiwillig gegeben hat — und zwar jeder beliebige, da eben die Gegenseitigkeit des Sich- entsprechens jedem einzelnen die Qualität der Wahrheit verschafft. Auch in der besonderen Nüance des Künstlerischen ist also Wahrheit ein Relationsbegriff, sie realisiert sich als ein Verhältnis der Elemente des Kunstwerkes untereinander, und nicht als eine starre Gleichheit zwischen jedem derselben und einem ihm äuſseren Objekt, das seine absolute Norm bilde. Von anderer Seite her auf dasselbe Ziel zuschreitend, kann man den Relativismus in Hinsicht der Erkenntnisprinzipien so formulieren: daſs die konstitutiven, das Wesen der Dinge ein- für allemal aus- drückenden Grundsätze in regulative übergehen, die nur Augenpunkte für das fortschreitende Erkennen sind. Grade die letzten und höchsten Abstraktionen, Vereinfachungen oder Zusammenfassungen des Denkens müssen den dogmatischen Anspruch aufgeben, das Erkennen ab- zuschlieſsen — und der subjektive Abschluſs desselben würde doch seinen Sinn und sein Recht nur an der objektiven Gültigkeit seines Inhaltes haben. An die Stelle der Behauptung: so und so verhalten sich die Dinge — hat in Hinsicht der äuſsersten und allgemeinsten Ansichten vielmehr die zu treten: unser Erkennen hat so zu ver- fahren, als ob sich die Dinge so und so verhielten. Damit ist die Möglichkeit gegeben, Art und Weg unseres Erkennens sein wirkliches Verhältnis zur Welt sehr adäquat ausdrücken zu lassen. Der Viel- heit unserer Wesensseiten sowie der abhülfesuchenden Einseitigkeit jedes einzelnen begrifflichen Ausdrucks für unsere Beziehung zu den Dingen entspricht und entspringt es, daſs kein derartiger Ausdruck allgemein und auf die Dauer befriedigt, vielmehr historisch seine Er- gänzung durch eine gegenteilige Behauptung zu finden pflegt; wodurch in unzähligen Einzelnen ein unsicheres Hin- und Herpendeln, ein widerspruchsvolles Gemenge oder eine Abneigung gegen umfassende Grundsätze überhaupt erzeugt wird. Wenn nun die konstitutiven Be- hauptungen, die das Wesen der Dinge festlegen wollen, in heuristische verwandelt werden, die nur unsere Erkenntniswege durch Feststellung

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/92>, abgerufen am 29.03.2024.