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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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zeichnend, dass man das kursierende Geld flüssig nennt: wie einer
Flüssigkeit fehlen ihm die inneren Grenzen, und nimmt es die äusseren
widerstandslos von der festen Fassung an, die sich ihm jeweilig bietet.
So ist es das durchgreifendste, weil für sich völlig indifferente Mittel
für die Überführung eines uns überindividuell zwingenden Rhythmus
von Lebensbedingungen in eine Ausgeglichenheit und Schwankungs-
losigkeit derselben, die unseren persönlichen Kräften und Interessen
eine freiere, einerseits individuellere, andrerseits reiner sachliche Be-
währung gestattet. Dennoch: grade dieses an sich wesenlose Wesen
des Geldes ermöglicht, dass es sich auch der Systematik und Rhyth-
mik des Lebens leihe, wo das Entwicklungsstadium der Verhältnisse
oder die Tendenz der Persönlichkeit darauf hin drängt. Während
wir gesehen haben, dass zwischen liberaler Verfassung und Geldwirt-
schaft eine enge Korrelation besteht, war doch nicht weniger bemerk-
bar, dass der Despotismus im Gelde eine unvergleichlich zweckmässige
Technik findet, ein Mittel, die räumlich fernsten Punkte seiner Herr-
schaft an sich zu binden, die bei Naturalwirtschaft immer zu Ab-
schnürung und Verselbständigung neigen. Und während die indi-
vidualistische Sozialform Englands an der Ausbildung des Geldwesens
gross geworden ist, zeigt sich dasselbe nicht nur in dem Sinn als
Vorläufer sozialistischer Formen, dass es durch einen dialektischen
Prozess in diese als in seine Negation umschlage, sondern ganz direkt
geben, wie wir an manchen Stellen sahen, spezifisch geldwirtschaftliche
Verhältnisse die Skizze oder den Typus der vom Sozialismus er-
strebten ab.

Hier ordnet sich das Geld einer uns schon früher wichtig gewordnen
Kategorie von Lebensmächten ein, deren sehr eigenartiges Schema es ist,
dass sie ihrem Wesen und ursprünglichen Sinne nach sich über die
Gegensätze erheben, in die die betreffende Interessenprovinz aus-
einandergeht, als die ungeteilte Indifferenz derselben jenseits ihrer
stehen -- dann oder zugleich aber in den Gegensatz der Einzel-
heiten hinuntersteigen: sie werden Partei, wo sie eben Unbeteiligte
oder Richter gewesen waren. So zunächst die Religion -- die der
Mensch braucht, um die Entzweiung zwischen seinen Bedürfnissen und
deren Befriedigung, zwischen seinem Sollen und seiner Praxis, zwischen
seinem Idealbild der Welt und der Wirklichkeit zu versöhnen. Hat
er sie aber einmal geschaffen, so bleibt sie nicht in der Höhe, die sie
in ihren höchsten Augenblicken erreicht, sondern steigt selbst auf den
Kampfplatz hinunter, wird eine Seite im Dualismus des Daseins, den
sie eben noch in sich vereinheitlichte. Die Religion steht einerseits
dem, was wir als unser ganzes Leben empfinden, als äquivalente Macht

zeichnend, daſs man das kursierende Geld flüssig nennt: wie einer
Flüssigkeit fehlen ihm die inneren Grenzen, und nimmt es die äuſseren
widerstandslos von der festen Fassung an, die sich ihm jeweilig bietet.
So ist es das durchgreifendste, weil für sich völlig indifferente Mittel
für die Überführung eines uns überindividuell zwingenden Rhythmus
von Lebensbedingungen in eine Ausgeglichenheit und Schwankungs-
losigkeit derselben, die unseren persönlichen Kräften und Interessen
eine freiere, einerseits individuellere, andrerseits reiner sachliche Be-
währung gestattet. Dennoch: grade dieses an sich wesenlose Wesen
des Geldes ermöglicht, daſs es sich auch der Systematik und Rhyth-
mik des Lebens leihe, wo das Entwicklungsstadium der Verhältnisse
oder die Tendenz der Persönlichkeit darauf hin drängt. Während
wir gesehen haben, daſs zwischen liberaler Verfassung und Geldwirt-
schaft eine enge Korrelation besteht, war doch nicht weniger bemerk-
bar, daſs der Despotismus im Gelde eine unvergleichlich zweckmäſsige
Technik findet, ein Mittel, die räumlich fernsten Punkte seiner Herr-
schaft an sich zu binden, die bei Naturalwirtschaft immer zu Ab-
schnürung und Verselbständigung neigen. Und während die indi-
vidualistische Sozialform Englands an der Ausbildung des Geldwesens
groſs geworden ist, zeigt sich dasselbe nicht nur in dem Sinn als
Vorläufer sozialistischer Formen, daſs es durch einen dialektischen
Prozeſs in diese als in seine Negation umschlage, sondern ganz direkt
geben, wie wir an manchen Stellen sahen, spezifisch geldwirtschaftliche
Verhältnisse die Skizze oder den Typus der vom Sozialismus er-
strebten ab.

Hier ordnet sich das Geld einer uns schon früher wichtig gewordnen
Kategorie von Lebensmächten ein, deren sehr eigenartiges Schema es ist,
daſs sie ihrem Wesen und ursprünglichen Sinne nach sich über die
Gegensätze erheben, in die die betreffende Interessenprovinz aus-
einandergeht, als die ungeteilte Indifferenz derselben jenseits ihrer
stehen — dann oder zugleich aber in den Gegensatz der Einzel-
heiten hinuntersteigen: sie werden Partei, wo sie eben Unbeteiligte
oder Richter gewesen waren. So zunächst die Religion — die der
Mensch braucht, um die Entzweiung zwischen seinen Bedürfnissen und
deren Befriedigung, zwischen seinem Sollen und seiner Praxis, zwischen
seinem Idealbild der Welt und der Wirklichkeit zu versöhnen. Hat
er sie aber einmal geschaffen, so bleibt sie nicht in der Höhe, die sie
in ihren höchsten Augenblicken erreicht, sondern steigt selbst auf den
Kampfplatz hinunter, wird eine Seite im Dualismus des Daseins, den
sie eben noch in sich vereinheitlichte. Die Religion steht einerseits
dem, was wir als unser ganzes Leben empfinden, als äquivalente Macht

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[535/0559] zeichnend, daſs man das kursierende Geld flüssig nennt: wie einer Flüssigkeit fehlen ihm die inneren Grenzen, und nimmt es die äuſseren widerstandslos von der festen Fassung an, die sich ihm jeweilig bietet. So ist es das durchgreifendste, weil für sich völlig indifferente Mittel für die Überführung eines uns überindividuell zwingenden Rhythmus von Lebensbedingungen in eine Ausgeglichenheit und Schwankungs- losigkeit derselben, die unseren persönlichen Kräften und Interessen eine freiere, einerseits individuellere, andrerseits reiner sachliche Be- währung gestattet. Dennoch: grade dieses an sich wesenlose Wesen des Geldes ermöglicht, daſs es sich auch der Systematik und Rhyth- mik des Lebens leihe, wo das Entwicklungsstadium der Verhältnisse oder die Tendenz der Persönlichkeit darauf hin drängt. Während wir gesehen haben, daſs zwischen liberaler Verfassung und Geldwirt- schaft eine enge Korrelation besteht, war doch nicht weniger bemerk- bar, daſs der Despotismus im Gelde eine unvergleichlich zweckmäſsige Technik findet, ein Mittel, die räumlich fernsten Punkte seiner Herr- schaft an sich zu binden, die bei Naturalwirtschaft immer zu Ab- schnürung und Verselbständigung neigen. Und während die indi- vidualistische Sozialform Englands an der Ausbildung des Geldwesens groſs geworden ist, zeigt sich dasselbe nicht nur in dem Sinn als Vorläufer sozialistischer Formen, daſs es durch einen dialektischen Prozeſs in diese als in seine Negation umschlage, sondern ganz direkt geben, wie wir an manchen Stellen sahen, spezifisch geldwirtschaftliche Verhältnisse die Skizze oder den Typus der vom Sozialismus er- strebten ab. Hier ordnet sich das Geld einer uns schon früher wichtig gewordnen Kategorie von Lebensmächten ein, deren sehr eigenartiges Schema es ist, daſs sie ihrem Wesen und ursprünglichen Sinne nach sich über die Gegensätze erheben, in die die betreffende Interessenprovinz aus- einandergeht, als die ungeteilte Indifferenz derselben jenseits ihrer stehen — dann oder zugleich aber in den Gegensatz der Einzel- heiten hinuntersteigen: sie werden Partei, wo sie eben Unbeteiligte oder Richter gewesen waren. So zunächst die Religion — die der Mensch braucht, um die Entzweiung zwischen seinen Bedürfnissen und deren Befriedigung, zwischen seinem Sollen und seiner Praxis, zwischen seinem Idealbild der Welt und der Wirklichkeit zu versöhnen. Hat er sie aber einmal geschaffen, so bleibt sie nicht in der Höhe, die sie in ihren höchsten Augenblicken erreicht, sondern steigt selbst auf den Kampfplatz hinunter, wird eine Seite im Dualismus des Daseins, den sie eben noch in sich vereinheitlichte. Die Religion steht einerseits dem, was wir als unser ganzes Leben empfinden, als äquivalente Macht

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 535. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/559>, abgerufen am 24.04.2024.