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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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in niedrigem oder auf gewisse Körperprovinzen beschränktem Grade
auch am "lebenden" Organismus stattfinden.

Allein diese ökonomische Betrachtungsart ist nicht die geltende.
Thatsächlich ruht die ganze vom Christentum beherrschte Entwicklung
der Lebenswerte auf der Idee, dass der Mensch einen absoluten
Wert besitzt; jenseits aller Einzelheiten, aller Relativitäten, aller be-
sonderen Kräfte und Äusserungen seines empirischen Wesens steht
eben "der Mensch", als etwas einheitliches und unteilbares, dessen
Wert mit irgend einem quantitativen Massstab überhaupt nicht ab-
gewogen und deshalb auch nicht mit einem blossen Mehr oder Weniger
eines anderen Wertes aufgewogen werden kann. Das ist der Grund-
gedanke, der das ideelle Fundament des Blutgeldes wie der Sklaverei
verneint, weil diese den ganzen und absoluten Menschen in ein Gleichungs-
verhältnis mit einem relativen und bloss quantitativ bestimmbaren
Werte, dem Geld, bringen. Dass es zu dieser Aufgipfelung des Menschen-
wertes kam, ist wie gesagt dem Christentum gutzuschreiben, dessen
Gesinnung freilich einerseits in mancherlei Ansätzen antizipiert worden
ist, wie die historische Entwicklung dieser Konsequenz andrerseits
lange auf sich warten liess; denn die Kirche hat die Sklaverei keines-
wegs so energisch bekämpft, wie sie wohl verpflichtet gewesen wäre,
und hat (allerdings um des öffentlichen Friedens willen und um Blut-
vergiessen zu vermeiden) die Sühnung des Mordes durch Wergeld
gradezu gefordert. Dass dennoch die Enthebung des Menschenwertes
aus jeder blossen Relation, jeder nur quantitativ bestimmten Reihe in
der Denkrichtung des Christentums liegt, hängt so zusammen. Was
jede höhere Kultur von den niederen scheidet, ist sowohl die Viel-
fachheit wie die Länge der teleologischen Reihen. Die Bedürfnisse des
rohen Menschen sind gering an Zahl, und wenn sie überhaupt erreicht
werden, gelingt es durch eine relativ kurze Kette von Mitteln.
Steigende Kultur vermehrt nicht nur die Wünsche und Bestrebungen
der Menschen, sondern sie führt den Aufbau der Mittel zu jedem
einzelnen dieser Zwecke immer höher, und fordert schon für das blosse
Mittel oft einen vielgliedrigen Mechanismus ineinandergreifender Vor-
bedingungen. Auf Grund dieses Verhältnisses wird sich die abstrakte
Vorstellung von Zweck und Mittel erst in einer höheren Kultur er-
heben; erst in ihr wird wegen der Fülle der Zweckreihen, die eine
Vereinheitlichung suchen, wegen des immer weiteren Hinausrückens der
eigentlichen Zwecke an eine immer längere Kette von Mitteln -- die
Frage nach dem absoluten Endzweck, der diesem ganzen Treiben Ver-
nunft und Weihe gäbe, nach dem Wozu des Wozu auftauchen. Dazu
kommt, dass das Leben und Handeln des Kulturmenschen sich durch

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in niedrigem oder auf gewisse Körperprovinzen beschränktem Grade
auch am „lebenden“ Organismus stattfinden.

Allein diese ökonomische Betrachtungsart ist nicht die geltende.
Thatsächlich ruht die ganze vom Christentum beherrschte Entwicklung
der Lebenswerte auf der Idee, daſs der Mensch einen absoluten
Wert besitzt; jenseits aller Einzelheiten, aller Relativitäten, aller be-
sonderen Kräfte und Äuſserungen seines empirischen Wesens steht
eben „der Mensch“, als etwas einheitliches und unteilbares, dessen
Wert mit irgend einem quantitativen Maſsstab überhaupt nicht ab-
gewogen und deshalb auch nicht mit einem bloſsen Mehr oder Weniger
eines anderen Wertes aufgewogen werden kann. Das ist der Grund-
gedanke, der das ideelle Fundament des Blutgeldes wie der Sklaverei
verneint, weil diese den ganzen und absoluten Menschen in ein Gleichungs-
verhältnis mit einem relativen und bloſs quantitativ bestimmbaren
Werte, dem Geld, bringen. Daſs es zu dieser Aufgipfelung des Menschen-
wertes kam, ist wie gesagt dem Christentum gutzuschreiben, dessen
Gesinnung freilich einerseits in mancherlei Ansätzen antizipiert worden
ist, wie die historische Entwicklung dieser Konsequenz andrerseits
lange auf sich warten lieſs; denn die Kirche hat die Sklaverei keines-
wegs so energisch bekämpft, wie sie wohl verpflichtet gewesen wäre,
und hat (allerdings um des öffentlichen Friedens willen und um Blut-
vergieſsen zu vermeiden) die Sühnung des Mordes durch Wergeld
gradezu gefordert. Daſs dennoch die Enthebung des Menschenwertes
aus jeder bloſsen Relation, jeder nur quantitativ bestimmten Reihe in
der Denkrichtung des Christentums liegt, hängt so zusammen. Was
jede höhere Kultur von den niederen scheidet, ist sowohl die Viel-
fachheit wie die Länge der teleologischen Reihen. Die Bedürfnisse des
rohen Menschen sind gering an Zahl, und wenn sie überhaupt erreicht
werden, gelingt es durch eine relativ kurze Kette von Mitteln.
Steigende Kultur vermehrt nicht nur die Wünsche und Bestrebungen
der Menschen, sondern sie führt den Aufbau der Mittel zu jedem
einzelnen dieser Zwecke immer höher, und fordert schon für das bloſse
Mittel oft einen vielgliedrigen Mechanismus ineinandergreifender Vor-
bedingungen. Auf Grund dieses Verhältnisses wird sich die abstrakte
Vorstellung von Zweck und Mittel erst in einer höheren Kultur er-
heben; erst in ihr wird wegen der Fülle der Zweckreihen, die eine
Vereinheitlichung suchen, wegen des immer weiteren Hinausrückens der
eigentlichen Zwecke an eine immer längere Kette von Mitteln — die
Frage nach dem absoluten Endzweck, der diesem ganzen Treiben Ver-
nunft und Weihe gäbe, nach dem Wozu des Wozu auftauchen. Dazu
kommt, daſs das Leben und Handeln des Kulturmenschen sich durch

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[371/0395] in niedrigem oder auf gewisse Körperprovinzen beschränktem Grade auch am „lebenden“ Organismus stattfinden. Allein diese ökonomische Betrachtungsart ist nicht die geltende. Thatsächlich ruht die ganze vom Christentum beherrschte Entwicklung der Lebenswerte auf der Idee, daſs der Mensch einen absoluten Wert besitzt; jenseits aller Einzelheiten, aller Relativitäten, aller be- sonderen Kräfte und Äuſserungen seines empirischen Wesens steht eben „der Mensch“, als etwas einheitliches und unteilbares, dessen Wert mit irgend einem quantitativen Maſsstab überhaupt nicht ab- gewogen und deshalb auch nicht mit einem bloſsen Mehr oder Weniger eines anderen Wertes aufgewogen werden kann. Das ist der Grund- gedanke, der das ideelle Fundament des Blutgeldes wie der Sklaverei verneint, weil diese den ganzen und absoluten Menschen in ein Gleichungs- verhältnis mit einem relativen und bloſs quantitativ bestimmbaren Werte, dem Geld, bringen. Daſs es zu dieser Aufgipfelung des Menschen- wertes kam, ist wie gesagt dem Christentum gutzuschreiben, dessen Gesinnung freilich einerseits in mancherlei Ansätzen antizipiert worden ist, wie die historische Entwicklung dieser Konsequenz andrerseits lange auf sich warten lieſs; denn die Kirche hat die Sklaverei keines- wegs so energisch bekämpft, wie sie wohl verpflichtet gewesen wäre, und hat (allerdings um des öffentlichen Friedens willen und um Blut- vergieſsen zu vermeiden) die Sühnung des Mordes durch Wergeld gradezu gefordert. Daſs dennoch die Enthebung des Menschenwertes aus jeder bloſsen Relation, jeder nur quantitativ bestimmten Reihe in der Denkrichtung des Christentums liegt, hängt so zusammen. Was jede höhere Kultur von den niederen scheidet, ist sowohl die Viel- fachheit wie die Länge der teleologischen Reihen. Die Bedürfnisse des rohen Menschen sind gering an Zahl, und wenn sie überhaupt erreicht werden, gelingt es durch eine relativ kurze Kette von Mitteln. Steigende Kultur vermehrt nicht nur die Wünsche und Bestrebungen der Menschen, sondern sie führt den Aufbau der Mittel zu jedem einzelnen dieser Zwecke immer höher, und fordert schon für das bloſse Mittel oft einen vielgliedrigen Mechanismus ineinandergreifender Vor- bedingungen. Auf Grund dieses Verhältnisses wird sich die abstrakte Vorstellung von Zweck und Mittel erst in einer höheren Kultur er- heben; erst in ihr wird wegen der Fülle der Zweckreihen, die eine Vereinheitlichung suchen, wegen des immer weiteren Hinausrückens der eigentlichen Zwecke an eine immer längere Kette von Mitteln — die Frage nach dem absoluten Endzweck, der diesem ganzen Treiben Ver- nunft und Weihe gäbe, nach dem Wozu des Wozu auftauchen. Dazu kommt, daſs das Leben und Handeln des Kulturmenschen sich durch 24*

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/395>, abgerufen am 03.05.2024.