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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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substanziellere Technik legt ihm überhaupt lokale Bedingungen auf,
von denen das Geldgeschäft frei ist. Noch entschiedener tritt dies
natürlich an dem Unterschied zwischen Grund- und Geldbesitz hervor.
Es beweist die Tiefe dieses soziologischen Zusammenhanges, dass man
hundert Jahre nach jener Äusserung Boteros grade an sie die Betrach-
tung geknüpft hat, welche Gefahr es für den Staat wäre, wenn das
Hauptvermögen der herrschenden Klasse aus Mobiliarbesitz besteht,
den man in Zeiten der öffentlichen Not in Sicherheit bringen kann,
während die Grundbesitzer durch ihr Interesse unlösbar mit dem Vater-
lande verbunden sind. In England ist das steigende Übergewicht des
industriellen Reichtums über den in Grundbesitz angelegten dafür ver-
antwortlich gemacht worden, dass das kommunal-soziale Interesse der
obersten Klasse sich verloren hat. Das alte self-government ruhte auf
der persönlichen Staatsthätigkeit der letzteren, die jetzt immer mehr
direkten Staatsorganen Platz macht. Die blosse Geldsteuer, mit der
man sich jetzt abfindet, dokumentiert den Zusammenhang, der zwischen
der gewachsenen Geldmässigkeit aller Verhältnisse und dem Niedergang
jener alten Sozialverpflichtungen stattfindet.

Nun macht das Geld nicht nur die Beziehung des Einzelnen zur
Gruppe überhaupt zu einer viel unabhängigeren, sondern der Inhalt
der speziellen Assoziationen und das Verhältnis der Teilnehmer zu
ihnen unterliegt einem ganz neuen Differenzierungsprozess. Die mittel-
alterliche Korporation schloss den ganzen Menschen in sich ein: eine
Zunft der Tuchmacher war nicht eine Assoziation von Individuen,
welche die blossen Interessen der Tuchmacherei pflegte, sondern eine
Lebensgemeinschaft in fachlicher, geselliger, religiöser, politischer und
vielen sonstigen Hinsichten. Um so sachliche Interessen sich eine
solche Assoziation auch gruppieren mochte, sie lebte doch ganz un-
mittelbar in ihren Mitgliedern und diese gingen restlos in ihr auf. Im
Gegensatz zu dieser Einheitsform hat nun die Geldwirtschaft unzählige
Assoziationen ermöglicht, die entweder von ihren Mitgliedern nur Geld-
beiträge verlangen oder auf ein blosses Geldinteresse hinausgehen: zu-
höchst die Aktiengesellschaft, bei der der Vereinigungspunkt der Teil-
haber ausschliesslich in dem Interesse an der Dividende liegt; so aus-
schliesslich, dass es wohl jedem Einzelnen ganz gleichgültig ist, was
die Gesellschaft denn eigentlich produziert. Die sachliche Zusammen-
hangslosigkeit des Subjekts mit dem Objekt, an dem es ein blosses
Geldinteresse hat, spiegelt sich in seiner personalen Zusammenhangs-
losigkeit mit den anderen Subjekten, mit denen ihn ein ausschliess-
liches Geldinteresse verbindet. Hiermit ist nun eine der wirkungs-
vollsten kulturellen Formungen gegeben: die Möglichkeit des Indivi-

substanziellere Technik legt ihm überhaupt lokale Bedingungen auf,
von denen das Geldgeschäft frei ist. Noch entschiedener tritt dies
natürlich an dem Unterschied zwischen Grund- und Geldbesitz hervor.
Es beweist die Tiefe dieses soziologischen Zusammenhanges, daſs man
hundert Jahre nach jener Äuſserung Boteros grade an sie die Betrach-
tung geknüpft hat, welche Gefahr es für den Staat wäre, wenn das
Hauptvermögen der herrschenden Klasse aus Mobiliarbesitz besteht,
den man in Zeiten der öffentlichen Not in Sicherheit bringen kann,
während die Grundbesitzer durch ihr Interesse unlösbar mit dem Vater-
lande verbunden sind. In England ist das steigende Übergewicht des
industriellen Reichtums über den in Grundbesitz angelegten dafür ver-
antwortlich gemacht worden, daſs das kommunal-soziale Interesse der
obersten Klasse sich verloren hat. Das alte self-government ruhte auf
der persönlichen Staatsthätigkeit der letzteren, die jetzt immer mehr
direkten Staatsorganen Platz macht. Die bloſse Geldsteuer, mit der
man sich jetzt abfindet, dokumentiert den Zusammenhang, der zwischen
der gewachsenen Geldmäſsigkeit aller Verhältnisse und dem Niedergang
jener alten Sozialverpflichtungen stattfindet.

Nun macht das Geld nicht nur die Beziehung des Einzelnen zur
Gruppe überhaupt zu einer viel unabhängigeren, sondern der Inhalt
der speziellen Assoziationen und das Verhältnis der Teilnehmer zu
ihnen unterliegt einem ganz neuen Differenzierungsprozeſs. Die mittel-
alterliche Korporation schloſs den ganzen Menschen in sich ein: eine
Zunft der Tuchmacher war nicht eine Assoziation von Individuen,
welche die bloſsen Interessen der Tuchmacherei pflegte, sondern eine
Lebensgemeinschaft in fachlicher, geselliger, religiöser, politischer und
vielen sonstigen Hinsichten. Um so sachliche Interessen sich eine
solche Assoziation auch gruppieren mochte, sie lebte doch ganz un-
mittelbar in ihren Mitgliedern und diese gingen restlos in ihr auf. Im
Gegensatz zu dieser Einheitsform hat nun die Geldwirtschaft unzählige
Assoziationen ermöglicht, die entweder von ihren Mitgliedern nur Geld-
beiträge verlangen oder auf ein bloſses Geldinteresse hinausgehen: zu-
höchst die Aktiengesellschaft, bei der der Vereinigungspunkt der Teil-
haber ausschlieſslich in dem Interesse an der Dividende liegt; so aus-
schlieſslich, daſs es wohl jedem Einzelnen ganz gleichgültig ist, was
die Gesellschaft denn eigentlich produziert. Die sachliche Zusammen-
hangslosigkeit des Subjekts mit dem Objekt, an dem es ein bloſses
Geldinteresse hat, spiegelt sich in seiner personalen Zusammenhangs-
losigkeit mit den anderen Subjekten, mit denen ihn ein ausschlieſs-
liches Geldinteresse verbindet. Hiermit ist nun eine der wirkungs-
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[351/0375] substanziellere Technik legt ihm überhaupt lokale Bedingungen auf, von denen das Geldgeschäft frei ist. Noch entschiedener tritt dies natürlich an dem Unterschied zwischen Grund- und Geldbesitz hervor. Es beweist die Tiefe dieses soziologischen Zusammenhanges, daſs man hundert Jahre nach jener Äuſserung Boteros grade an sie die Betrach- tung geknüpft hat, welche Gefahr es für den Staat wäre, wenn das Hauptvermögen der herrschenden Klasse aus Mobiliarbesitz besteht, den man in Zeiten der öffentlichen Not in Sicherheit bringen kann, während die Grundbesitzer durch ihr Interesse unlösbar mit dem Vater- lande verbunden sind. In England ist das steigende Übergewicht des industriellen Reichtums über den in Grundbesitz angelegten dafür ver- antwortlich gemacht worden, daſs das kommunal-soziale Interesse der obersten Klasse sich verloren hat. Das alte self-government ruhte auf der persönlichen Staatsthätigkeit der letzteren, die jetzt immer mehr direkten Staatsorganen Platz macht. Die bloſse Geldsteuer, mit der man sich jetzt abfindet, dokumentiert den Zusammenhang, der zwischen der gewachsenen Geldmäſsigkeit aller Verhältnisse und dem Niedergang jener alten Sozialverpflichtungen stattfindet. Nun macht das Geld nicht nur die Beziehung des Einzelnen zur Gruppe überhaupt zu einer viel unabhängigeren, sondern der Inhalt der speziellen Assoziationen und das Verhältnis der Teilnehmer zu ihnen unterliegt einem ganz neuen Differenzierungsprozeſs. Die mittel- alterliche Korporation schloſs den ganzen Menschen in sich ein: eine Zunft der Tuchmacher war nicht eine Assoziation von Individuen, welche die bloſsen Interessen der Tuchmacherei pflegte, sondern eine Lebensgemeinschaft in fachlicher, geselliger, religiöser, politischer und vielen sonstigen Hinsichten. Um so sachliche Interessen sich eine solche Assoziation auch gruppieren mochte, sie lebte doch ganz un- mittelbar in ihren Mitgliedern und diese gingen restlos in ihr auf. Im Gegensatz zu dieser Einheitsform hat nun die Geldwirtschaft unzählige Assoziationen ermöglicht, die entweder von ihren Mitgliedern nur Geld- beiträge verlangen oder auf ein bloſses Geldinteresse hinausgehen: zu- höchst die Aktiengesellschaft, bei der der Vereinigungspunkt der Teil- haber ausschlieſslich in dem Interesse an der Dividende liegt; so aus- schlieſslich, daſs es wohl jedem Einzelnen ganz gleichgültig ist, was die Gesellschaft denn eigentlich produziert. Die sachliche Zusammen- hangslosigkeit des Subjekts mit dem Objekt, an dem es ein bloſses Geldinteresse hat, spiegelt sich in seiner personalen Zusammenhangs- losigkeit mit den anderen Subjekten, mit denen ihn ein ausschlieſs- liches Geldinteresse verbindet. Hiermit ist nun eine der wirkungs- vollsten kulturellen Formungen gegeben: die Möglichkeit des Indivi-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/375>, abgerufen am 22.11.2024.