Unter den Bewegungen des Lebens, insbesondere soweit sie sich an äussere Gegenstände heften, pflegt man entweder das Erwerben oder das Geniessen der letzteren zu verstehen. Das Besitzen ihrer erscheint dagegen nicht als Bewegung, sondern als ein ruhender, gleichsam sub- stanzieller Zustand, zu jenen anderen sich verhaltend, wie das Sein zum Werden. Im Gegensatz dazu glaube ich, dass man auch das Besitzen als ein Thun bezeichnen muss, wenn man die ganze Tiefe und Breite seiner Bedeutung ergreifen will. Es ist eine falsche Ge- wöhnung, den Besitz als etwas passiv Hingenommenes zu betrachten, als das unbedingt nachgiebige Objekt, das, soweit es eben Besitz ist, keine Bethätigung unsererseits mehr erfordert. Nur in das Reich des Ethischen, das heisst der frommen Wünsche, hat sich jene im Reiche des Seins verkannte Thatsache geflüchtet, wenn wir es als Er- mahnung hören, dass wir erwerben sollen, was wir besitzen wollen, dass jeder Besitz zugleich Pflicht sei, dass man mit seinem Pfunde wuchern solle u. s. w. Höchstens giebt man zu, dass man mit dem Besitze weiterhin etwas anzufangen habe, allein an und für sich sei er etwas Ruhendes, sei er der Endpunkt, vielleicht auch der Ausgangs- punkt einer Aktion, aber nicht selbst Aktion. Sieht man näher zu, so zeigt sich dieser passivistische Eigentumsbegriff als eine Fiktion; was in gewissen primitiveren Verhältnissen besonders nachdrücklich hervortritt. Im alten Nord-Peru und ebenso im alten Mexiko war die Bearbeitung der -- jährlich aufgeteilten -- Felder eine gemeinsame; der Ertrag aber war individueller Besitz. Nicht nur aber durfte nie- mand seinen Anteil verkaufen oder verschenken, sondern, wenn er frei- willig verreiste und nicht zur Bebauung seines Feldes zurückkehrte, so ging er seines Anteils überhaupt verlustig. Ganz ebenso bedeutete in den alten deutschen Marken der Besitz eines Stückes Land für sich selbst noch nicht, dass man auch wirklicher Markgenosse war: dazu musste man den Besitz auch wirklich selbst bebauen, musste, wie es in den Weistümern heisst, dort selbst Wasser und Weide geniessen und
II.
Unter den Bewegungen des Lebens, insbesondere soweit sie sich an äuſsere Gegenstände heften, pflegt man entweder das Erwerben oder das Genieſsen der letzteren zu verstehen. Das Besitzen ihrer erscheint dagegen nicht als Bewegung, sondern als ein ruhender, gleichsam sub- stanzieller Zustand, zu jenen anderen sich verhaltend, wie das Sein zum Werden. Im Gegensatz dazu glaube ich, daſs man auch das Besitzen als ein Thun bezeichnen muſs, wenn man die ganze Tiefe und Breite seiner Bedeutung ergreifen will. Es ist eine falsche Ge- wöhnung, den Besitz als etwas passiv Hingenommenes zu betrachten, als das unbedingt nachgiebige Objekt, das, soweit es eben Besitz ist, keine Bethätigung unsererseits mehr erfordert. Nur in das Reich des Ethischen, das heiſst der frommen Wünsche, hat sich jene im Reiche des Seins verkannte Thatsache geflüchtet, wenn wir es als Er- mahnung hören, daſs wir erwerben sollen, was wir besitzen wollen, daſs jeder Besitz zugleich Pflicht sei, daſs man mit seinem Pfunde wuchern solle u. s. w. Höchstens giebt man zu, daſs man mit dem Besitze weiterhin etwas anzufangen habe, allein an und für sich sei er etwas Ruhendes, sei er der Endpunkt, vielleicht auch der Ausgangs- punkt einer Aktion, aber nicht selbst Aktion. Sieht man näher zu, so zeigt sich dieser passivistische Eigentumsbegriff als eine Fiktion; was in gewissen primitiveren Verhältnissen besonders nachdrücklich hervortritt. Im alten Nord-Peru und ebenso im alten Mexiko war die Bearbeitung der — jährlich aufgeteilten — Felder eine gemeinsame; der Ertrag aber war individueller Besitz. Nicht nur aber durfte nie- mand seinen Anteil verkaufen oder verschenken, sondern, wenn er frei- willig verreiste und nicht zur Bebauung seines Feldes zurückkehrte, so ging er seines Anteils überhaupt verlustig. Ganz ebenso bedeutete in den alten deutschen Marken der Besitz eines Stückes Land für sich selbst noch nicht, daſs man auch wirklicher Markgenosse war: dazu muſste man den Besitz auch wirklich selbst bebauen, muſste, wie es in den Weistümern heiſst, dort selbst Wasser und Weide genieſsen und
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[[303]/0327]
II.
Unter den Bewegungen des Lebens, insbesondere soweit sie sich
an äuſsere Gegenstände heften, pflegt man entweder das Erwerben oder
das Genieſsen der letzteren zu verstehen. Das Besitzen ihrer erscheint
dagegen nicht als Bewegung, sondern als ein ruhender, gleichsam sub-
stanzieller Zustand, zu jenen anderen sich verhaltend, wie das Sein
zum Werden. Im Gegensatz dazu glaube ich, daſs man auch das
Besitzen als ein Thun bezeichnen muſs, wenn man die ganze Tiefe
und Breite seiner Bedeutung ergreifen will. Es ist eine falsche Ge-
wöhnung, den Besitz als etwas passiv Hingenommenes zu betrachten,
als das unbedingt nachgiebige Objekt, das, soweit es eben Besitz
ist, keine Bethätigung unsererseits mehr erfordert. Nur in das Reich
des Ethischen, das heiſst der frommen Wünsche, hat sich jene im
Reiche des Seins verkannte Thatsache geflüchtet, wenn wir es als Er-
mahnung hören, daſs wir erwerben sollen, was wir besitzen wollen,
daſs jeder Besitz zugleich Pflicht sei, daſs man mit seinem Pfunde
wuchern solle u. s. w. Höchstens giebt man zu, daſs man mit dem
Besitze weiterhin etwas anzufangen habe, allein an und für sich sei
er etwas Ruhendes, sei er der Endpunkt, vielleicht auch der Ausgangs-
punkt einer Aktion, aber nicht selbst Aktion. Sieht man näher zu,
so zeigt sich dieser passivistische Eigentumsbegriff als eine Fiktion;
was in gewissen primitiveren Verhältnissen besonders nachdrücklich
hervortritt. Im alten Nord-Peru und ebenso im alten Mexiko war die
Bearbeitung der — jährlich aufgeteilten — Felder eine gemeinsame;
der Ertrag aber war individueller Besitz. Nicht nur aber durfte nie-
mand seinen Anteil verkaufen oder verschenken, sondern, wenn er frei-
willig verreiste und nicht zur Bebauung seines Feldes zurückkehrte, so
ging er seines Anteils überhaupt verlustig. Ganz ebenso bedeutete in
den alten deutschen Marken der Besitz eines Stückes Land für sich
selbst noch nicht, daſs man auch wirklicher Markgenosse war: dazu
muſste man den Besitz auch wirklich selbst bebauen, muſste, wie es
in den Weistümern heiſst, dort selbst Wasser und Weide genieſsen und
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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. [303]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/327>, abgerufen am 22.11.2024.
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