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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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auf ein völlig anderes Gebiet übertragen, doch auch nur die Karikatur
einer prinzipiell richtigen Empfindung, wenn eine wiedertäuferische
Sekte die Vielzahl der angetrauten Frauen und ihren häufigen Wechsel
damit rechtfertigte, dass grade so die innere Abhängigkeit von dem
weiblichen Prinzip gebrochen würde. Unsere Gesamtlage setzt sich in
jedem Augenblick aus einem Mass von Bindung und einem Mass von
Freiheit zusammen -- innerhalb der einzelnen Lebensprovinz oft so,
dass das eine sich mehr an ihrem Inhalt, das andere mehr an ihrer
Form verwirklicht. Die Fesselung, die ein bestimmtes Interesse uns
auferlegt, empfinden wir sogleich durch Freiheit gemildert, wenn wir
sie gleichsam lokal umlagern können, d. h. ohne Herabsetzung des
Abhängigkeitsquantums die sachlichen, idealen oder personalen Instanzen
selbst auswählen können, denen gegenüber dies letztere sich verwirk-
licht. In dem Lohnarbeitertum der Geldwirtschaft kommt eine formal
gleiche Entwicklung auf. Sieht man auf die Härte und Erzwungen-
heit der Arbeit, so scheint es, als wären die Lohnarbeiter nur um-
gekleidete Sklaven. Wir werden nachher sehen, wie die Thatsache,
dass sie die Sklaven des objektiven Produktionsprozesses sind, als
Übergang zu ihrer Befreiung gedeutet werden kann; die subjektive
Seite davon aber ist, dass das Dienstverhältnis zu dem einzelnen Unter-
nehmer früheren Arbeitsformen gegenüber ein unvergleichlich viel
lockreres ist. Gewiss ist der Arbeiter an die Arbeit gefesselt wie der
Bauer an die Scholle, allein die Häufigkeit, mit der die Geldwirtschaft
die Unternehmer austauscht, und die vielfache Möglichkeit der Wahl
und des Wechsels derselben, die die Form des Geldlohnes dem Ar-
beiter gewährt, geben diesem doch eine ganz neue Freiheit innerhalb
seiner Gebundenheit. Der Sklave konnte selbst dann den Herrn nicht
wechseln, wenn er bereit war, sehr viel schlechtere Lebensbedingungen
auf sich zu nehmen -- was der Lohnarbeiter in jedem Augenblick
kann; indem so der Druck der unwiderruflichen Abhängigkeit von dem
individuell bestimmten Herrn in Wegfall kommt, ist, bei aller sach-
lichen Bindung, doch der Weg zu einer personalen Freiheit beschritten.
Diese beginnende Freiheit anzuerkennen, darf uns ihre häufige Einfluss-
losigkeit auf die materielle Lage des Arbeiters nicht verhindern. Denn
hier wie auf andern Gebieten besteht zwischen Freiheit und eudä-
monistischer Hebung keineswegs der notwendige Zusammenhang, den
die Wünsche, die Theorien und die Agitationen ohne weiteres voraus-
zusetzen pflegen. Vor allem wirkt nach dieser Richtung, dass der
Freiheit des Arbeiters auch eine Freiheit des Arbeitgebers entspricht,
die bei gebundneren Arbeitsformen nicht bestand. Der Sklavenhalter
wie der Gutsherr hat das persönliche Interesse, seine Sklaven oder

auf ein völlig anderes Gebiet übertragen, doch auch nur die Karikatur
einer prinzipiell richtigen Empfindung, wenn eine wiedertäuferische
Sekte die Vielzahl der angetrauten Frauen und ihren häufigen Wechsel
damit rechtfertigte, daſs grade so die innere Abhängigkeit von dem
weiblichen Prinzip gebrochen würde. Unsere Gesamtlage setzt sich in
jedem Augenblick aus einem Maſs von Bindung und einem Maſs von
Freiheit zusammen — innerhalb der einzelnen Lebensprovinz oft so,
daſs das eine sich mehr an ihrem Inhalt, das andere mehr an ihrer
Form verwirklicht. Die Fesselung, die ein bestimmtes Interesse uns
auferlegt, empfinden wir sogleich durch Freiheit gemildert, wenn wir
sie gleichsam lokal umlagern können, d. h. ohne Herabsetzung des
Abhängigkeitsquantums die sachlichen, idealen oder personalen Instanzen
selbst auswählen können, denen gegenüber dies letztere sich verwirk-
licht. In dem Lohnarbeitertum der Geldwirtschaft kommt eine formal
gleiche Entwicklung auf. Sieht man auf die Härte und Erzwungen-
heit der Arbeit, so scheint es, als wären die Lohnarbeiter nur um-
gekleidete Sklaven. Wir werden nachher sehen, wie die Thatsache,
daſs sie die Sklaven des objektiven Produktionsprozesses sind, als
Übergang zu ihrer Befreiung gedeutet werden kann; die subjektive
Seite davon aber ist, daſs das Dienstverhältnis zu dem einzelnen Unter-
nehmer früheren Arbeitsformen gegenüber ein unvergleichlich viel
lockreres ist. Gewiſs ist der Arbeiter an die Arbeit gefesselt wie der
Bauer an die Scholle, allein die Häufigkeit, mit der die Geldwirtschaft
die Unternehmer austauscht, und die vielfache Möglichkeit der Wahl
und des Wechsels derselben, die die Form des Geldlohnes dem Ar-
beiter gewährt, geben diesem doch eine ganz neue Freiheit innerhalb
seiner Gebundenheit. Der Sklave konnte selbst dann den Herrn nicht
wechseln, wenn er bereit war, sehr viel schlechtere Lebensbedingungen
auf sich zu nehmen — was der Lohnarbeiter in jedem Augenblick
kann; indem so der Druck der unwiderruflichen Abhängigkeit von dem
individuell bestimmten Herrn in Wegfall kommt, ist, bei aller sach-
lichen Bindung, doch der Weg zu einer personalen Freiheit beschritten.
Diese beginnende Freiheit anzuerkennen, darf uns ihre häufige Einfluſs-
losigkeit auf die materielle Lage des Arbeiters nicht verhindern. Denn
hier wie auf andern Gebieten besteht zwischen Freiheit und eudä-
monistischer Hebung keineswegs der notwendige Zusammenhang, den
die Wünsche, die Theorien und die Agitationen ohne weiteres voraus-
zusetzen pflegen. Vor allem wirkt nach dieser Richtung, daſs der
Freiheit des Arbeiters auch eine Freiheit des Arbeitgebers entspricht,
die bei gebundneren Arbeitsformen nicht bestand. Der Sklavenhalter
wie der Gutsherr hat das persönliche Interesse, seine Sklaven oder

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[297/0321] auf ein völlig anderes Gebiet übertragen, doch auch nur die Karikatur einer prinzipiell richtigen Empfindung, wenn eine wiedertäuferische Sekte die Vielzahl der angetrauten Frauen und ihren häufigen Wechsel damit rechtfertigte, daſs grade so die innere Abhängigkeit von dem weiblichen Prinzip gebrochen würde. Unsere Gesamtlage setzt sich in jedem Augenblick aus einem Maſs von Bindung und einem Maſs von Freiheit zusammen — innerhalb der einzelnen Lebensprovinz oft so, daſs das eine sich mehr an ihrem Inhalt, das andere mehr an ihrer Form verwirklicht. Die Fesselung, die ein bestimmtes Interesse uns auferlegt, empfinden wir sogleich durch Freiheit gemildert, wenn wir sie gleichsam lokal umlagern können, d. h. ohne Herabsetzung des Abhängigkeitsquantums die sachlichen, idealen oder personalen Instanzen selbst auswählen können, denen gegenüber dies letztere sich verwirk- licht. In dem Lohnarbeitertum der Geldwirtschaft kommt eine formal gleiche Entwicklung auf. Sieht man auf die Härte und Erzwungen- heit der Arbeit, so scheint es, als wären die Lohnarbeiter nur um- gekleidete Sklaven. Wir werden nachher sehen, wie die Thatsache, daſs sie die Sklaven des objektiven Produktionsprozesses sind, als Übergang zu ihrer Befreiung gedeutet werden kann; die subjektive Seite davon aber ist, daſs das Dienstverhältnis zu dem einzelnen Unter- nehmer früheren Arbeitsformen gegenüber ein unvergleichlich viel lockreres ist. Gewiſs ist der Arbeiter an die Arbeit gefesselt wie der Bauer an die Scholle, allein die Häufigkeit, mit der die Geldwirtschaft die Unternehmer austauscht, und die vielfache Möglichkeit der Wahl und des Wechsels derselben, die die Form des Geldlohnes dem Ar- beiter gewährt, geben diesem doch eine ganz neue Freiheit innerhalb seiner Gebundenheit. Der Sklave konnte selbst dann den Herrn nicht wechseln, wenn er bereit war, sehr viel schlechtere Lebensbedingungen auf sich zu nehmen — was der Lohnarbeiter in jedem Augenblick kann; indem so der Druck der unwiderruflichen Abhängigkeit von dem individuell bestimmten Herrn in Wegfall kommt, ist, bei aller sach- lichen Bindung, doch der Weg zu einer personalen Freiheit beschritten. Diese beginnende Freiheit anzuerkennen, darf uns ihre häufige Einfluſs- losigkeit auf die materielle Lage des Arbeiters nicht verhindern. Denn hier wie auf andern Gebieten besteht zwischen Freiheit und eudä- monistischer Hebung keineswegs der notwendige Zusammenhang, den die Wünsche, die Theorien und die Agitationen ohne weiteres voraus- zusetzen pflegen. Vor allem wirkt nach dieser Richtung, daſs der Freiheit des Arbeiters auch eine Freiheit des Arbeitgebers entspricht, die bei gebundneren Arbeitsformen nicht bestand. Der Sklavenhalter wie der Gutsherr hat das persönliche Interesse, seine Sklaven oder

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/321>, abgerufen am 22.11.2024.