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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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vollkommneren überzuführen: das nächstliegende ist die Ablenkung
des Kampfes gegen den Mitmenschen in den Kampf gegen die Natur.
In dem Masse, in dem man weitere Substanzen und Kräfte aus dem
noch unokkupierten Vorrat der Natur in die menschlichen Nutz-
niessungen hineinzieht, werden die bereits okkupierten von der Kon-
kurrenz um sie entlastet. Die Sätze von der Erhaltung des Stoffes
und der Energie gelten glücklicherweise nur für das absolute Ganze
der Natur, nicht aber für denjenigen Ausschnitt derselben, den das
menschliche Zweckhandeln für sich designiert; dies relative Ganze
ist allerdings ins unbestimmte vermehrbar, indem wir immer mehr
Stoffe und Kräfte in die für uns zweckmässige Form bringen, gleich-
sam annektieren können. Selbst aus demjenigen, was seinem Umfange
nach bereits okkupiert ist, lehrt uns fortschreitende Technik immer
weitere Nutzungen gewinnen: der Übergang von der extensiven zur
intensiven Wirtschaft vollzieht sich keineswegs nur auf dem Gebiete
der Bodenkultur, sondern an jeder Substanz, die in immer feinere
Teile zu immer spezielleren Nutzungen zerlegt, oder deren latente
Kräfte immer vollständiger entbunden werden. Die so nach ver-
schiedenen Dimensionen gehende Ausdehnung des menschlichen Macht-
gebietes, die es zur Unwahrheit macht, dass die Welt weggegeben ist,
und die die Bedürfnisbefriedigung nicht erst an einen Raub irgend
welcher Art knüpft -- könnte man den substanziellen Fortschritt der
Kultur nennen. Neben diesem steht nun, zweitens, was man als den
funktionellen Fortschritt bezeichnen dürfte. Bei diesem handelt es
sich darum, für den Besitzwechsel bestimmter gegebener Objekte die
Formen zu finden, welche denselben für beide Parteien vorteilhaft
machen: zu einer solchen Form kann es ursprünglich nur dann ge-
kommen sein, wenn der erste Besitzer die physische Macht besass, den
von Anderen begehrten Gegenstand fest zu halten, bis ihm ein ent-
sprechender Gegenvorteil geboten wurde, denn andernfalls würde ihm
der Gegenstand einfach weggenommen werden. Der Raub, vielleicht
das Geschenk erscheint als die primitivste Stufe des Besitzwechsels,
auf der also der Vorteil noch ganz auf der einen, die Last ganz
auf der anderen Seite ruht. Wenn sich über dieser nun die
Stufe des Tausches als Form des Besitzwechsels erhebt, zunächst
wie gesagt als blosse Folge der gleichen Macht der Parteien, so ist
dies einer der ungeheuersten Fortschritte, die die Menschheit über-
haupt machen konnte. Angesichts der blossen Gradunterschiede, die
nach so vielen Seiten hin zwischen den Menschen und den niederen
Tieren bestehen, hat man bekanntlich oft versucht, die spezifische
Differenz festzustellen, die den Menschen unverkennbar und eindeutig

vollkommneren überzuführen: das nächstliegende ist die Ablenkung
des Kampfes gegen den Mitmenschen in den Kampf gegen die Natur.
In dem Maſse, in dem man weitere Substanzen und Kräfte aus dem
noch unokkupierten Vorrat der Natur in die menschlichen Nutz-
nieſsungen hineinzieht, werden die bereits okkupierten von der Kon-
kurrenz um sie entlastet. Die Sätze von der Erhaltung des Stoffes
und der Energie gelten glücklicherweise nur für das absolute Ganze
der Natur, nicht aber für denjenigen Ausschnitt derselben, den das
menschliche Zweckhandeln für sich designiert; dies relative Ganze
ist allerdings ins unbestimmte vermehrbar, indem wir immer mehr
Stoffe und Kräfte in die für uns zweckmäſsige Form bringen, gleich-
sam annektieren können. Selbst aus demjenigen, was seinem Umfange
nach bereits okkupiert ist, lehrt uns fortschreitende Technik immer
weitere Nutzungen gewinnen: der Übergang von der extensiven zur
intensiven Wirtschaft vollzieht sich keineswegs nur auf dem Gebiete
der Bodenkultur, sondern an jeder Substanz, die in immer feinere
Teile zu immer spezielleren Nutzungen zerlegt, oder deren latente
Kräfte immer vollständiger entbunden werden. Die so nach ver-
schiedenen Dimensionen gehende Ausdehnung des menschlichen Macht-
gebietes, die es zur Unwahrheit macht, daſs die Welt weggegeben ist,
und die die Bedürfnisbefriedigung nicht erst an einen Raub irgend
welcher Art knüpft — könnte man den substanziellen Fortschritt der
Kultur nennen. Neben diesem steht nun, zweitens, was man als den
funktionellen Fortschritt bezeichnen dürfte. Bei diesem handelt es
sich darum, für den Besitzwechsel bestimmter gegebener Objekte die
Formen zu finden, welche denselben für beide Parteien vorteilhaft
machen: zu einer solchen Form kann es ursprünglich nur dann ge-
kommen sein, wenn der erste Besitzer die physische Macht besaſs, den
von Anderen begehrten Gegenstand fest zu halten, bis ihm ein ent-
sprechender Gegenvorteil geboten wurde, denn andernfalls würde ihm
der Gegenstand einfach weggenommen werden. Der Raub, vielleicht
das Geschenk erscheint als die primitivste Stufe des Besitzwechsels,
auf der also der Vorteil noch ganz auf der einen, die Last ganz
auf der anderen Seite ruht. Wenn sich über dieser nun die
Stufe des Tausches als Form des Besitzwechsels erhebt, zunächst
wie gesagt als bloſse Folge der gleichen Macht der Parteien, so ist
dies einer der ungeheuersten Fortschritte, die die Menschheit über-
haupt machen konnte. Angesichts der bloſsen Gradunterschiede, die
nach so vielen Seiten hin zwischen den Menschen und den niederen
Tieren bestehen, hat man bekanntlich oft versucht, die spezifische
Differenz festzustellen, die den Menschen unverkennbar und eindeutig

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[287/0311] vollkommneren überzuführen: das nächstliegende ist die Ablenkung des Kampfes gegen den Mitmenschen in den Kampf gegen die Natur. In dem Maſse, in dem man weitere Substanzen und Kräfte aus dem noch unokkupierten Vorrat der Natur in die menschlichen Nutz- nieſsungen hineinzieht, werden die bereits okkupierten von der Kon- kurrenz um sie entlastet. Die Sätze von der Erhaltung des Stoffes und der Energie gelten glücklicherweise nur für das absolute Ganze der Natur, nicht aber für denjenigen Ausschnitt derselben, den das menschliche Zweckhandeln für sich designiert; dies relative Ganze ist allerdings ins unbestimmte vermehrbar, indem wir immer mehr Stoffe und Kräfte in die für uns zweckmäſsige Form bringen, gleich- sam annektieren können. Selbst aus demjenigen, was seinem Umfange nach bereits okkupiert ist, lehrt uns fortschreitende Technik immer weitere Nutzungen gewinnen: der Übergang von der extensiven zur intensiven Wirtschaft vollzieht sich keineswegs nur auf dem Gebiete der Bodenkultur, sondern an jeder Substanz, die in immer feinere Teile zu immer spezielleren Nutzungen zerlegt, oder deren latente Kräfte immer vollständiger entbunden werden. Die so nach ver- schiedenen Dimensionen gehende Ausdehnung des menschlichen Macht- gebietes, die es zur Unwahrheit macht, daſs die Welt weggegeben ist, und die die Bedürfnisbefriedigung nicht erst an einen Raub irgend welcher Art knüpft — könnte man den substanziellen Fortschritt der Kultur nennen. Neben diesem steht nun, zweitens, was man als den funktionellen Fortschritt bezeichnen dürfte. Bei diesem handelt es sich darum, für den Besitzwechsel bestimmter gegebener Objekte die Formen zu finden, welche denselben für beide Parteien vorteilhaft machen: zu einer solchen Form kann es ursprünglich nur dann ge- kommen sein, wenn der erste Besitzer die physische Macht besaſs, den von Anderen begehrten Gegenstand fest zu halten, bis ihm ein ent- sprechender Gegenvorteil geboten wurde, denn andernfalls würde ihm der Gegenstand einfach weggenommen werden. Der Raub, vielleicht das Geschenk erscheint als die primitivste Stufe des Besitzwechsels, auf der also der Vorteil noch ganz auf der einen, die Last ganz auf der anderen Seite ruht. Wenn sich über dieser nun die Stufe des Tausches als Form des Besitzwechsels erhebt, zunächst wie gesagt als bloſse Folge der gleichen Macht der Parteien, so ist dies einer der ungeheuersten Fortschritte, die die Menschheit über- haupt machen konnte. Angesichts der bloſsen Gradunterschiede, die nach so vielen Seiten hin zwischen den Menschen und den niederen Tieren bestehen, hat man bekanntlich oft versucht, die spezifische Differenz festzustellen, die den Menschen unverkennbar und eindeutig

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/311>, abgerufen am 06.05.2024.