Man kann die Entwicklung jedes menschlichen Schicksals von dem Gesichtspunkte aus darstellen, dass es in einer ununterbrochenen Ab- wechslung von Bindung und Lösung, von Verpflichtung und Freiheit ver- läuft. Dieser erste Überschlag indes stellt eine Scheidung dar, deren Schroffheit die nähere Betrachtung mildert. Was wir nämlich als Freiheit empfinden, ist thatsächlich oft nur ein Wechsel der Verpflichtungen; indem sich an die Stelle der bisher getragenen eine neue schiebt, empfinden wir vor allen Dingen den Fortfall jenes alten Druckes, und weil wir von ihm frei werden, scheinen wir im ersten Augenblick überhaupt frei zu sein -- bis die neue Pflicht, die wir zuerst gleichsam mit bisher ge- schonten und deshalb besonders kräftigen Muskelgruppen tragen, mit der allmählichen Ermüdung derselben ihr Gewicht geltend macht und nun der Befreiungsprozess ebenso an sie ansetzt, wie er vorher in ihr gemündet hatte. Dieses Schema vollzieht sich nicht an allen Bin- dungen mit quantitativer Gleichheit: es giebt vielmehr gewisse, mit welchen der Ton der Freiheit länger, intensiver, bewusster, verbunden ist als mit anderen; manche Leistungen, die nicht weniger streng ge- fordert werden als andere und im ganzen die Kräfte der Persönlich- keit nicht weniger beanspruchen, scheinen dennoch dieser ein besonders grosses Mass von Freiheit zu gewähren. Der Unterschied der Ver- pflichtungen, der diesen Unterschied der damit verträglichen Freiheit zur Folge hat, weist folgenden Typus auf. Jeder Verpflichtung, die nicht einer blossen Idee gegenüber besteht, entspricht das Forderungs- recht eines Anderen: weshalb denn die Moralphilosophie allenthalben die sittliche Freiheit mit denjenigen Verpflichtungen identifiziert,
Viertes Kapitel. Die individuelle Freiheit.
I.
Man kann die Entwicklung jedes menschlichen Schicksals von dem Gesichtspunkte aus darstellen, daſs es in einer ununterbrochenen Ab- wechslung von Bindung und Lösung, von Verpflichtung und Freiheit ver- läuft. Dieser erste Überschlag indes stellt eine Scheidung dar, deren Schroffheit die nähere Betrachtung mildert. Was wir nämlich als Freiheit empfinden, ist thatsächlich oft nur ein Wechsel der Verpflichtungen; indem sich an die Stelle der bisher getragenen eine neue schiebt, empfinden wir vor allen Dingen den Fortfall jenes alten Druckes, und weil wir von ihm frei werden, scheinen wir im ersten Augenblick überhaupt frei zu sein — bis die neue Pflicht, die wir zuerst gleichsam mit bisher ge- schonten und deshalb besonders kräftigen Muskelgruppen tragen, mit der allmählichen Ermüdung derselben ihr Gewicht geltend macht und nun der Befreiungsprozeſs ebenso an sie ansetzt, wie er vorher in ihr gemündet hatte. Dieses Schema vollzieht sich nicht an allen Bin- dungen mit quantitativer Gleichheit: es giebt vielmehr gewisse, mit welchen der Ton der Freiheit länger, intensiver, bewuſster, verbunden ist als mit anderen; manche Leistungen, die nicht weniger streng ge- fordert werden als andere und im ganzen die Kräfte der Persönlich- keit nicht weniger beanspruchen, scheinen dennoch dieser ein besonders groſses Maſs von Freiheit zu gewähren. Der Unterschied der Ver- pflichtungen, der diesen Unterschied der damit verträglichen Freiheit zur Folge hat, weist folgenden Typus auf. Jeder Verpflichtung, die nicht einer bloſsen Idee gegenüber besteht, entspricht das Forderungs- recht eines Anderen: weshalb denn die Moralphilosophie allenthalben die sittliche Freiheit mit denjenigen Verpflichtungen identifiziert,
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Viertes Kapitel.
Die individuelle Freiheit.
I.
Man kann die Entwicklung jedes menschlichen Schicksals von dem
Gesichtspunkte aus darstellen, daſs es in einer ununterbrochenen Ab-
wechslung von Bindung und Lösung, von Verpflichtung und Freiheit ver-
läuft. Dieser erste Überschlag indes stellt eine Scheidung dar, deren
Schroffheit die nähere Betrachtung mildert. Was wir nämlich als Freiheit
empfinden, ist thatsächlich oft nur ein Wechsel der Verpflichtungen; indem
sich an die Stelle der bisher getragenen eine neue schiebt, empfinden
wir vor allen Dingen den Fortfall jenes alten Druckes, und weil wir von
ihm frei werden, scheinen wir im ersten Augenblick überhaupt frei zu
sein — bis die neue Pflicht, die wir zuerst gleichsam mit bisher ge-
schonten und deshalb besonders kräftigen Muskelgruppen tragen, mit
der allmählichen Ermüdung derselben ihr Gewicht geltend macht und
nun der Befreiungsprozeſs ebenso an sie ansetzt, wie er vorher in ihr
gemündet hatte. Dieses Schema vollzieht sich nicht an allen Bin-
dungen mit quantitativer Gleichheit: es giebt vielmehr gewisse, mit
welchen der Ton der Freiheit länger, intensiver, bewuſster, verbunden
ist als mit anderen; manche Leistungen, die nicht weniger streng ge-
fordert werden als andere und im ganzen die Kräfte der Persönlich-
keit nicht weniger beanspruchen, scheinen dennoch dieser ein besonders
groſses Maſs von Freiheit zu gewähren. Der Unterschied der Ver-
pflichtungen, der diesen Unterschied der damit verträglichen Freiheit
zur Folge hat, weist folgenden Typus auf. Jeder Verpflichtung, die
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recht eines Anderen: weshalb denn die Moralphilosophie allenthalben
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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. [279]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/303>, abgerufen am 22.11.2024.
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