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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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Verhältnis hebt, in dem der seiner individuellen Teile sinkt. Ich er-
innere daran, dass Mass und Bedeutung einer sozialen Gruppe oft um
so höher steigt, je geringer das Leben und die Interessen ihrer Mit-
glieder als Individuen eingeschätzt werden; dass die objektive Kultur, Viel-
seitigkeit und Lebendigkeit ihrer sachlichen Inhalte ihren höchsten Grad
durch eine Arbeitsteilung erreichen, die den einzelnen Träger und An-
teilhaber dieser Kultur oft in eintöniges Spezialistentum, Beschränktheit
und Verkümmerung bannt: das Ganze ist um so vollkommener und
harmonischer, je weniger der Einzelne noch ein harmonisches Ganzes
ist. Dieselbe Form stellt sich auch sachlich dar. Der besondere Reiz
und die Vollendung gewisser Gedichte besteht darin, dass die einzelnen
Worte durchaus keinen selbständigen Sinn, ausser dem, der dem be-
herrschenden Gefühl oder dem Kunstzweck des Ganzen dient, psycho-
logisch mit anklingen lassen, dass der Gesamtkreis der Assoziationen,
der die eigne Bedeutung des Wortes ausmacht, ganz zurücktritt, und
nur die dem Zentrum des Gedichtes zugewandten für das Bewusstsein be-
leuchtet sind; so dass das Ganze in demselben Masse kunstvollendeter
ist, in dem seine Elemente ihre individuelle, für sich seiende Bedeu-
tung einbüssen. Und endlich ein ganz äusserlicher Fall. Der Her-
stellungs- wie der Kunstwert eines Mosaikbildes ist um so höher, je
kleiner seine einzelnen Steinchen sind; die Farben des Ganzen sind
die treffendsten und nüanciertesten, wenn der einzelne Bestandteil eine
möglichst geringfügige, einfache und für sich bedeutungslose Farben-
fläche darbietet. Es ist also ein im Gebiete der Wertungen keines-
wegs unerhörter Fall, dass die Werte des Ganzen und die seiner Teile
sich in umgekehrter Proportionalität zu einander entwickeln; und zwar
nicht durch ein zufälliges Zusammentreffen von Umständen, sondern
durch direkte Verursachung: dass jede einzelne angebbare Geldsumme
jetzt weniger wert ist als vor Jahrhunderten, ist die unmittelbare Bedingung
für die ungeheuer gesteigerte Bedeutung des Geldes. Und diese Be-
dingung hängt ihrerseits wieder von dem Steigen des Funktionswertes
des Geldes auf Kosten seines Substanzwertes ab. Das zeigt sich nicht
nur am Geld im allgemeinen, sondern auch an den einzelnen davon
abzweigenden Erscheinungen: der Zinsfuss stand ausserordentlich hoch,
so lange es teils wegen der kirchlichen Wucherlehre, teils wegen der
naturalwirtschaftlichen Verhältnisse überhaupt wenig verzinsliche Dar-
lehen gab; eine je grössere Bedeutung der Zins im wirtschaftlichen
Leben erhielt, desto geringer wurde er.

Und auch von dem allerprinzipiellsten Standpunkte aus wäre es
das schwerste Missverständnis der Entwicklung von der Substanz zur
Leistung, wenn man sie auf ein "Wertlos"-werden des Geldes deutete,

Simmel, Philosophie des Geldes. 12

Verhältnis hebt, in dem der seiner individuellen Teile sinkt. Ich er-
innere daran, daſs Maſs und Bedeutung einer sozialen Gruppe oft um
so höher steigt, je geringer das Leben und die Interessen ihrer Mit-
glieder als Individuen eingeschätzt werden; daſs die objektive Kultur, Viel-
seitigkeit und Lebendigkeit ihrer sachlichen Inhalte ihren höchsten Grad
durch eine Arbeitsteilung erreichen, die den einzelnen Träger und An-
teilhaber dieser Kultur oft in eintöniges Spezialistentum, Beschränktheit
und Verkümmerung bannt: das Ganze ist um so vollkommener und
harmonischer, je weniger der Einzelne noch ein harmonisches Ganzes
ist. Dieselbe Form stellt sich auch sachlich dar. Der besondere Reiz
und die Vollendung gewisser Gedichte besteht darin, daſs die einzelnen
Worte durchaus keinen selbständigen Sinn, auſser dem, der dem be-
herrschenden Gefühl oder dem Kunstzweck des Ganzen dient, psycho-
logisch mit anklingen lassen, daſs der Gesamtkreis der Assoziationen,
der die eigne Bedeutung des Wortes ausmacht, ganz zurücktritt, und
nur die dem Zentrum des Gedichtes zugewandten für das Bewuſstsein be-
leuchtet sind; so daſs das Ganze in demselben Maſse kunstvollendeter
ist, in dem seine Elemente ihre individuelle, für sich seiende Bedeu-
tung einbüſsen. Und endlich ein ganz äuſserlicher Fall. Der Her-
stellungs- wie der Kunstwert eines Mosaikbildes ist um so höher, je
kleiner seine einzelnen Steinchen sind; die Farben des Ganzen sind
die treffendsten und nüanciertesten, wenn der einzelne Bestandteil eine
möglichst geringfügige, einfache und für sich bedeutungslose Farben-
fläche darbietet. Es ist also ein im Gebiete der Wertungen keines-
wegs unerhörter Fall, daſs die Werte des Ganzen und die seiner Teile
sich in umgekehrter Proportionalität zu einander entwickeln; und zwar
nicht durch ein zufälliges Zusammentreffen von Umständen, sondern
durch direkte Verursachung: daſs jede einzelne angebbare Geldsumme
jetzt weniger wert ist als vor Jahrhunderten, ist die unmittelbare Bedingung
für die ungeheuer gesteigerte Bedeutung des Geldes. Und diese Be-
dingung hängt ihrerseits wieder von dem Steigen des Funktionswertes
des Geldes auf Kosten seines Substanzwertes ab. Das zeigt sich nicht
nur am Geld im allgemeinen, sondern auch an den einzelnen davon
abzweigenden Erscheinungen: der Zinsfuſs stand auſserordentlich hoch,
so lange es teils wegen der kirchlichen Wucherlehre, teils wegen der
naturalwirtschaftlichen Verhältnisse überhaupt wenig verzinsliche Dar-
lehen gab; eine je gröſsere Bedeutung der Zins im wirtschaftlichen
Leben erhielt, desto geringer wurde er.

Und auch von dem allerprinzipiellsten Standpunkte aus wäre es
das schwerste Miſsverständnis der Entwicklung von der Substanz zur
Leistung, wenn man sie auf ein „Wertlos“-werden des Geldes deutete,

Simmel, Philosophie des Geldes. 12
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[177/0201] Verhältnis hebt, in dem der seiner individuellen Teile sinkt. Ich er- innere daran, daſs Maſs und Bedeutung einer sozialen Gruppe oft um so höher steigt, je geringer das Leben und die Interessen ihrer Mit- glieder als Individuen eingeschätzt werden; daſs die objektive Kultur, Viel- seitigkeit und Lebendigkeit ihrer sachlichen Inhalte ihren höchsten Grad durch eine Arbeitsteilung erreichen, die den einzelnen Träger und An- teilhaber dieser Kultur oft in eintöniges Spezialistentum, Beschränktheit und Verkümmerung bannt: das Ganze ist um so vollkommener und harmonischer, je weniger der Einzelne noch ein harmonisches Ganzes ist. Dieselbe Form stellt sich auch sachlich dar. Der besondere Reiz und die Vollendung gewisser Gedichte besteht darin, daſs die einzelnen Worte durchaus keinen selbständigen Sinn, auſser dem, der dem be- herrschenden Gefühl oder dem Kunstzweck des Ganzen dient, psycho- logisch mit anklingen lassen, daſs der Gesamtkreis der Assoziationen, der die eigne Bedeutung des Wortes ausmacht, ganz zurücktritt, und nur die dem Zentrum des Gedichtes zugewandten für das Bewuſstsein be- leuchtet sind; so daſs das Ganze in demselben Maſse kunstvollendeter ist, in dem seine Elemente ihre individuelle, für sich seiende Bedeu- tung einbüſsen. Und endlich ein ganz äuſserlicher Fall. Der Her- stellungs- wie der Kunstwert eines Mosaikbildes ist um so höher, je kleiner seine einzelnen Steinchen sind; die Farben des Ganzen sind die treffendsten und nüanciertesten, wenn der einzelne Bestandteil eine möglichst geringfügige, einfache und für sich bedeutungslose Farben- fläche darbietet. Es ist also ein im Gebiete der Wertungen keines- wegs unerhörter Fall, daſs die Werte des Ganzen und die seiner Teile sich in umgekehrter Proportionalität zu einander entwickeln; und zwar nicht durch ein zufälliges Zusammentreffen von Umständen, sondern durch direkte Verursachung: daſs jede einzelne angebbare Geldsumme jetzt weniger wert ist als vor Jahrhunderten, ist die unmittelbare Bedingung für die ungeheuer gesteigerte Bedeutung des Geldes. Und diese Be- dingung hängt ihrerseits wieder von dem Steigen des Funktionswertes des Geldes auf Kosten seines Substanzwertes ab. Das zeigt sich nicht nur am Geld im allgemeinen, sondern auch an den einzelnen davon abzweigenden Erscheinungen: der Zinsfuſs stand auſserordentlich hoch, so lange es teils wegen der kirchlichen Wucherlehre, teils wegen der naturalwirtschaftlichen Verhältnisse überhaupt wenig verzinsliche Dar- lehen gab; eine je gröſsere Bedeutung der Zins im wirtschaftlichen Leben erhielt, desto geringer wurde er. Und auch von dem allerprinzipiellsten Standpunkte aus wäre es das schwerste Miſsverständnis der Entwicklung von der Substanz zur Leistung, wenn man sie auf ein „Wertlos“-werden des Geldes deutete, Simmel, Philosophie des Geldes. 12

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/201>, abgerufen am 25.04.2024.