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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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individuell differenzierten Verhaltens und täuscht sie über die
Niedrigkeit des Niveaus, an das sie sich binden.

Aus dieser Verfassung der Masse, insofern sie einheitlich
auftritt, erklärt sich ungezwungen eine Erscheinung, die zu
den abenteuerlichsten sociologischen Ideen Veranlassung ge-
geben hat. Die Handlungen einer Gesellschaft haben gegen-
über denen des Individuums eine schwankungslose Treffsicher-
heit und Zweckmässigkeit. Der Einzelne wird von wider-
sprechenden Empfindungen, Antrieben und Gedanken hin- und
hergezogen, und seinem Geiste bieten sich in jedem Augen-
blick vielfache Handlungsmöglichkeiten dar, zwischen denen
er nicht immer mit objektiver Richtigkeit oder auch nur mit
subjektiver Gewissheit zu wählen weiss; die sociale Gruppe
dagegen ist sich stets darüber klar, wen sie für ihren Freund
und wen für ihren Feind hält, und zwar nicht so sehr in
theoretischem Sinne, als wenn es aufs Handeln ankommt.
Zwischen dem Wollen und dem Thun, dem Erstreben und
dem Erreichen, den Mitteln und den Zwecken der Allgemein-
heit ist eine geringere Diskrepanz, als zwischen denselben
Momenten im Individuellen. Dies hat man so zu erklären
gesucht, dass die Bewegungen der Masse im Gegensatz zu
dem freien Individuum naturgesetzlich bestimmt werden,
dass sie schlechthin dem Zuge ihrer Interessen folgen, dem
gegenüber sie so wenig wählen und schwanken können, wie
die Materienmassen gegenüber dem Zuge der Gravitation.
Eine ganze Anzahl fundamentaler erkenntnistheoretischer Un-
klarheiten steckt in dieser Erklärungsweise. Gäben wir selbst
zu, dass die Handlungen der Masse als solche in besonderem
Masse naturgesetzlich sind gegenüber den Handlungen der
Einzelnen, so bliebe es noch immer ein Wunder, wenn hier
Naturgesetz und Zweckmässigkeit immer zusammenfielen. Die
Natur kennt Zweckmässigkeit nur in der Form, dass sie eine
grosse Anzahl von Produkten mechanisch hervorbringt, von
denen dann zufällig eines besser als die andern sich den Um-
ständen anpassen kann und sich dadurch als zweckmässiges
erweist. Aber sie hat kein Gebiet, auf dem jede Hervor-
bringung von vornherein und unbedingt gewissen teleologi-
schen Forderungen genügte. Den alten Satz, dass die Natur
immer den kürzesten Weg zu ihren Zwecken einschlage,
können wir in keiner Weise mehr anerkennen; da die Natur
überhaupt keine Zwecke hat, so können auch ihre Wege nicht
durch eine Beziehung zu einem solchen als lange oder kurze
charakterisiert werden; deshalb wird auch die Übertragung
dieses Prinzips auf das Verhältnis zwischen den socialen
Zwecken und ihren Mitteln nicht zutreffen. Im Ernst wird
doch auch diese Meinung nicht behaupten wollen, dass das
Wählen und Irren des Einzelnen eine Ausnahme von der all-
gemeinen Naturkausalität darstelle; aber selbst wenn das so

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individuell differenzierten Verhaltens und täuscht sie über die
Niedrigkeit des Niveaus, an das sie sich binden.

Aus dieser Verfassung der Masse, insofern sie einheitlich
auftritt, erklärt sich ungezwungen eine Erscheinung, die zu
den abenteuerlichsten sociologischen Ideen Veranlassung ge-
geben hat. Die Handlungen einer Gesellschaft haben gegen-
über denen des Individuums eine schwankungslose Treffsicher-
heit und Zweckmäſsigkeit. Der Einzelne wird von wider-
sprechenden Empfindungen, Antrieben und Gedanken hin- und
hergezogen, und seinem Geiste bieten sich in jedem Augen-
blick vielfache Handlungsmöglichkeiten dar, zwischen denen
er nicht immer mit objektiver Richtigkeit oder auch nur mit
subjektiver Gewiſsheit zu wählen weiſs; die sociale Gruppe
dagegen ist sich stets darüber klar, wen sie für ihren Freund
und wen für ihren Feind hält, und zwar nicht so sehr in
theoretischem Sinne, als wenn es aufs Handeln ankommt.
Zwischen dem Wollen und dem Thun, dem Erstreben und
dem Erreichen, den Mitteln und den Zwecken der Allgemein-
heit ist eine geringere Diskrepanz, als zwischen denselben
Momenten im Individuellen. Dies hat man so zu erklären
gesucht, daſs die Bewegungen der Masse im Gegensatz zu
dem freien Individuum naturgesetzlich bestimmt werden,
daſs sie schlechthin dem Zuge ihrer Interessen folgen, dem
gegenüber sie so wenig wählen und schwanken können, wie
die Materienmassen gegenüber dem Zuge der Gravitation.
Eine ganze Anzahl fundamentaler erkenntnistheoretischer Un-
klarheiten steckt in dieser Erklärungsweise. Gäben wir selbst
zu, daſs die Handlungen der Masse als solche in besonderem
Maſse naturgesetzlich sind gegenüber den Handlungen der
Einzelnen, so bliebe es noch immer ein Wunder, wenn hier
Naturgesetz und Zweckmäſsigkeit immer zusammenfielen. Die
Natur kennt Zweckmäſsigkeit nur in der Form, daſs sie eine
groſse Anzahl von Produkten mechanisch hervorbringt, von
denen dann zufällig eines besser als die andern sich den Um-
ständen anpassen kann und sich dadurch als zweckmäſsiges
erweist. Aber sie hat kein Gebiet, auf dem jede Hervor-
bringung von vornherein und unbedingt gewissen teleologi-
schen Forderungen genügte. Den alten Satz, daſs die Natur
immer den kürzesten Weg zu ihren Zwecken einschlage,
können wir in keiner Weise mehr anerkennen; da die Natur
überhaupt keine Zwecke hat, so können auch ihre Wege nicht
durch eine Beziehung zu einem solchen als lange oder kurze
charakterisiert werden; deshalb wird auch die Übertragung
dieses Prinzips auf das Verhältnis zwischen den socialen
Zwecken und ihren Mitteln nicht zutreffen. Im Ernst wird
doch auch diese Meinung nicht behaupten wollen, daſs das
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gemeinen Naturkausalität darstelle; aber selbst wenn das so

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[85/0099] X 1. individuell differenzierten Verhaltens und täuscht sie über die Niedrigkeit des Niveaus, an das sie sich binden. Aus dieser Verfassung der Masse, insofern sie einheitlich auftritt, erklärt sich ungezwungen eine Erscheinung, die zu den abenteuerlichsten sociologischen Ideen Veranlassung ge- geben hat. Die Handlungen einer Gesellschaft haben gegen- über denen des Individuums eine schwankungslose Treffsicher- heit und Zweckmäſsigkeit. Der Einzelne wird von wider- sprechenden Empfindungen, Antrieben und Gedanken hin- und hergezogen, und seinem Geiste bieten sich in jedem Augen- blick vielfache Handlungsmöglichkeiten dar, zwischen denen er nicht immer mit objektiver Richtigkeit oder auch nur mit subjektiver Gewiſsheit zu wählen weiſs; die sociale Gruppe dagegen ist sich stets darüber klar, wen sie für ihren Freund und wen für ihren Feind hält, und zwar nicht so sehr in theoretischem Sinne, als wenn es aufs Handeln ankommt. Zwischen dem Wollen und dem Thun, dem Erstreben und dem Erreichen, den Mitteln und den Zwecken der Allgemein- heit ist eine geringere Diskrepanz, als zwischen denselben Momenten im Individuellen. Dies hat man so zu erklären gesucht, daſs die Bewegungen der Masse im Gegensatz zu dem freien Individuum naturgesetzlich bestimmt werden, daſs sie schlechthin dem Zuge ihrer Interessen folgen, dem gegenüber sie so wenig wählen und schwanken können, wie die Materienmassen gegenüber dem Zuge der Gravitation. Eine ganze Anzahl fundamentaler erkenntnistheoretischer Un- klarheiten steckt in dieser Erklärungsweise. Gäben wir selbst zu, daſs die Handlungen der Masse als solche in besonderem Maſse naturgesetzlich sind gegenüber den Handlungen der Einzelnen, so bliebe es noch immer ein Wunder, wenn hier Naturgesetz und Zweckmäſsigkeit immer zusammenfielen. Die Natur kennt Zweckmäſsigkeit nur in der Form, daſs sie eine groſse Anzahl von Produkten mechanisch hervorbringt, von denen dann zufällig eines besser als die andern sich den Um- ständen anpassen kann und sich dadurch als zweckmäſsiges erweist. Aber sie hat kein Gebiet, auf dem jede Hervor- bringung von vornherein und unbedingt gewissen teleologi- schen Forderungen genügte. Den alten Satz, daſs die Natur immer den kürzesten Weg zu ihren Zwecken einschlage, können wir in keiner Weise mehr anerkennen; da die Natur überhaupt keine Zwecke hat, so können auch ihre Wege nicht durch eine Beziehung zu einem solchen als lange oder kurze charakterisiert werden; deshalb wird auch die Übertragung dieses Prinzips auf das Verhältnis zwischen den socialen Zwecken und ihren Mitteln nicht zutreffen. Im Ernst wird doch auch diese Meinung nicht behaupten wollen, daſs das Wählen und Irren des Einzelnen eine Ausnahme von der all- gemeinen Naturkausalität darstelle; aber selbst wenn das so

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/99>, abgerufen am 23.11.2024.