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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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wusstsein besonders ankommt, finden gerade da statt, wo
der sehr differenzierte Einzelne inmitten sehr differenzierter
anderer Einzelnen darin steht und nun Vergleiche, Rei-
bungen, specialisierte Beziehungen eine Fülle von Reak-
tionen auslösen, die im engeren undifferenzierten Kreise latent
bleiben, hier aber gerade durch ihre Fülle und Verschieden-
artigkeit das Gefühl der eigenen Person steigern oder viel-
leicht erst hervorbringen.

Es bedarf sogar durchaus der Differenzierung der Teile,
wenn bei gegebenem Raum und beschränkten Lebensbedin-
gungen ein Wachsen der Gruppe stattfinden soll, -- eine Not-
wendigkeit, die auch auf Gebieten stattfindet, denen der
Zwang wirtschaftlicher Verhältnisse ganz fern liegt. Nach-
dem z. B. in der frühesten christlichen Gemeinde eine voll-
kommene Durchdringung des Lebens mit der religiösen Idee,
eine Erhebung jeder Funktion in die Sphäre derselben ge-
herrscht hatte, konnte bei der Verbreitung auf die Massen
eine gewisse Verflachung und Profanierung nicht ausbleiben;
das Weltliche, mit dem sich das Religiöse mischte, überwog
jetzt quantitativ zu sehr, als dass der hinzugesetzte religiöse
Bestandteil ihm sofort und ganz hätte sein Gepräge auf-
drücken können. Zugleich aber bildete sich der Mönchsstand,
für den das Weltliche vollkommen zurücktrat, um das Leben
ausschliesslich sich mit religiösem Inhalt erfüllen zu lassen.
Das Einssein von Religion und Leben zerfiel in weltlichen
und religiösen Stand, -- eine Differenzierung innerhalb des
Kreises der christlichen Religion, die zu ihrem Weiterbestande
durchaus erforderlich war, wenn sie die ursprünglichen engen
Grenzen überschreiten sollte. Wenn Dante den schärfsten
Dualismus zwischen weltlichem und kirchlichem Regime, die
völlige gegenseitige Unabhängigkeit zwischen den Normen der
Religion und denen des Staates predigt, so setzt er dies in un-
mittelbaren und sachlichen Zusammenhang mit dem Gedanken
des Weltkaiserreichs, der völligen Vereinheitlichung des ganzen
Menschengeschlechts zu einem organischen Ganzen.

Wo ein grosses Ganzes sich bildet, da finden sich soviele
Tendenzen, Triebe, Interessen zusammen, dass die Einheit des
Ganzen, sein Bestand als solcher, verloren gehen würde, wenn
nicht die Differenzierung das sachlich Verschiedene auch auf
verschiedene Personen, Institutionen oder Gruppen verteilte.
Das undifferenzierte Zusammensein erzeugt feindselig wer-
dende Ansprüche auf das gleiche Objekt, während bei völliger
Getrenntheit ein Nebeneinanderhergehen und Befasstsein in
dem gleichen Rahmen viel eher möglich ist. Gerade das
Verhältnis der Kirche zu anderen Elementen des Gesamt-
lebens, nicht nur zum Staat, lässt dies häufig hervortreten.
Solange z. B. die Kirche zugleich als Quelle und Behüterin
von Erkenntnis galt und gilt, hat die in ihr erstandene

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wuſstsein besonders ankommt, finden gerade da statt, wo
der sehr differenzierte Einzelne inmitten sehr differenzierter
anderer Einzelnen darin steht und nun Vergleiche, Rei-
bungen, specialisierte Beziehungen eine Fülle von Reak-
tionen auslösen, die im engeren undifferenzierten Kreise latent
bleiben, hier aber gerade durch ihre Fülle und Verschieden-
artigkeit das Gefühl der eigenen Person steigern oder viel-
leicht erst hervorbringen.

Es bedarf sogar durchaus der Differenzierung der Teile,
wenn bei gegebenem Raum und beschränkten Lebensbedin-
gungen ein Wachsen der Gruppe stattfinden soll, — eine Not-
wendigkeit, die auch auf Gebieten stattfindet, denen der
Zwang wirtschaftlicher Verhältnisse ganz fern liegt. Nach-
dem z. B. in der frühesten christlichen Gemeinde eine voll-
kommene Durchdringung des Lebens mit der religiösen Idee,
eine Erhebung jeder Funktion in die Sphäre derselben ge-
herrscht hatte, konnte bei der Verbreitung auf die Massen
eine gewisse Verflachung und Profanierung nicht ausbleiben;
das Weltliche, mit dem sich das Religiöse mischte, überwog
jetzt quantitativ zu sehr, als daſs der hinzugesetzte religiöse
Bestandteil ihm sofort und ganz hätte sein Gepräge auf-
drücken können. Zugleich aber bildete sich der Mönchsstand,
für den das Weltliche vollkommen zurücktrat, um das Leben
ausschlieſslich sich mit religiösem Inhalt erfüllen zu lassen.
Das Einssein von Religion und Leben zerfiel in weltlichen
und religiösen Stand, — eine Differenzierung innerhalb des
Kreises der christlichen Religion, die zu ihrem Weiterbestande
durchaus erforderlich war, wenn sie die ursprünglichen engen
Grenzen überschreiten sollte. Wenn Dante den schärfsten
Dualismus zwischen weltlichem und kirchlichem Regime, die
völlige gegenseitige Unabhängigkeit zwischen den Normen der
Religion und denen des Staates predigt, so setzt er dies in un-
mittelbaren und sachlichen Zusammenhang mit dem Gedanken
des Weltkaiserreichs, der völligen Vereinheitlichung des ganzen
Menschengeschlechts zu einem organischen Ganzen.

Wo ein groſses Ganzes sich bildet, da finden sich soviele
Tendenzen, Triebe, Interessen zusammen, daſs die Einheit des
Ganzen, sein Bestand als solcher, verloren gehen würde, wenn
nicht die Differenzierung das sachlich Verschiedene auch auf
verschiedene Personen, Institutionen oder Gruppen verteilte.
Das undifferenzierte Zusammensein erzeugt feindselig wer-
dende Ansprüche auf das gleiche Objekt, während bei völliger
Getrenntheit ein Nebeneinanderhergehen und Befaſstsein in
dem gleichen Rahmen viel eher möglich ist. Gerade das
Verhältnis der Kirche zu anderen Elementen des Gesamt-
lebens, nicht nur zum Staat, läſst dies häufig hervortreten.
Solange z. B. die Kirche zugleich als Quelle und Behüterin
von Erkenntnis galt und gilt, hat die in ihr erstandene

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[64/0078] X 1. wuſstsein besonders ankommt, finden gerade da statt, wo der sehr differenzierte Einzelne inmitten sehr differenzierter anderer Einzelnen darin steht und nun Vergleiche, Rei- bungen, specialisierte Beziehungen eine Fülle von Reak- tionen auslösen, die im engeren undifferenzierten Kreise latent bleiben, hier aber gerade durch ihre Fülle und Verschieden- artigkeit das Gefühl der eigenen Person steigern oder viel- leicht erst hervorbringen. Es bedarf sogar durchaus der Differenzierung der Teile, wenn bei gegebenem Raum und beschränkten Lebensbedin- gungen ein Wachsen der Gruppe stattfinden soll, — eine Not- wendigkeit, die auch auf Gebieten stattfindet, denen der Zwang wirtschaftlicher Verhältnisse ganz fern liegt. Nach- dem z. B. in der frühesten christlichen Gemeinde eine voll- kommene Durchdringung des Lebens mit der religiösen Idee, eine Erhebung jeder Funktion in die Sphäre derselben ge- herrscht hatte, konnte bei der Verbreitung auf die Massen eine gewisse Verflachung und Profanierung nicht ausbleiben; das Weltliche, mit dem sich das Religiöse mischte, überwog jetzt quantitativ zu sehr, als daſs der hinzugesetzte religiöse Bestandteil ihm sofort und ganz hätte sein Gepräge auf- drücken können. Zugleich aber bildete sich der Mönchsstand, für den das Weltliche vollkommen zurücktrat, um das Leben ausschlieſslich sich mit religiösem Inhalt erfüllen zu lassen. Das Einssein von Religion und Leben zerfiel in weltlichen und religiösen Stand, — eine Differenzierung innerhalb des Kreises der christlichen Religion, die zu ihrem Weiterbestande durchaus erforderlich war, wenn sie die ursprünglichen engen Grenzen überschreiten sollte. Wenn Dante den schärfsten Dualismus zwischen weltlichem und kirchlichem Regime, die völlige gegenseitige Unabhängigkeit zwischen den Normen der Religion und denen des Staates predigt, so setzt er dies in un- mittelbaren und sachlichen Zusammenhang mit dem Gedanken des Weltkaiserreichs, der völligen Vereinheitlichung des ganzen Menschengeschlechts zu einem organischen Ganzen. Wo ein groſses Ganzes sich bildet, da finden sich soviele Tendenzen, Triebe, Interessen zusammen, daſs die Einheit des Ganzen, sein Bestand als solcher, verloren gehen würde, wenn nicht die Differenzierung das sachlich Verschiedene auch auf verschiedene Personen, Institutionen oder Gruppen verteilte. Das undifferenzierte Zusammensein erzeugt feindselig wer- dende Ansprüche auf das gleiche Objekt, während bei völliger Getrenntheit ein Nebeneinanderhergehen und Befaſstsein in dem gleichen Rahmen viel eher möglich ist. Gerade das Verhältnis der Kirche zu anderen Elementen des Gesamt- lebens, nicht nur zum Staat, läſst dies häufig hervortreten. Solange z. B. die Kirche zugleich als Quelle und Behüterin von Erkenntnis galt und gilt, hat die in ihr erstandene

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/78>, abgerufen am 04.05.2024.