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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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Grössen unterschiede der socialen Gruppen nur die häufigste
Gelegenheit zum Hervortreten bieten, die sich indes auch
aus andern Veranlassungen zeigt. So bemerken wir z. B. bei
gewissen Völkern, wo das Extravagante, Überspannte, launen-
haft Impulsive sehr vorherrscht, doch eine sklavische Fesse-
lung an die Mode. Die Verrücktheit, die Einer begeht, wird
automatenhaft von allen andern nachgeäfft. Andere dagegen
mit mehr nüchterner und soldatisch zugeschnittener Form
des Lebens, die als Ganzes lange nicht so bunt ist, haben
doch einen viel stärkeren Individualitätstrieb, unterscheiden
sich innerhalb ihres gleichförmigen und einfachen Lebens-
stiles viel schärfer und prägnanter voneinander, als jene in
ihrer bunten und wechselnden Art. So hat also einerseits
das Ganze sehr individuellen Charakter, aber seine Teile sind
untereinander sehr gleich; andererseits ist das Ganze farbloser,
weniger nach einem Extrem zu gebildet, aber seine Teile sind
untereinander stark differenziert. Im Augenblick indessen
kommt es uns hauptsächlich auf das Korrelationsverhältnis
an, das sich an den Umfang der socialen Kreise knüpft und
die Freiheit der Gruppe mit der Gebundenheit des Indivi-
duums zu verbinden pflegt; ein gutes Beispiel davon zeigt
das Zusammenbestehen kommunaler Gebundenheit mit politi-
scher Freiheit, wie wir es in der russischen Verfassung der
vorzarischen Zeit finden. Besonders in der Epoche der
Mongolenkämpfe gab es in Russland eine grosse Anzahl terri-
torialer Einheiten, Fürstentümer, Städte, Dorfgemeinden, welche
untereinander von keinem einheitlichen staatlichen Bande zu-
sammengehalten wurden und also als Ganze grosser politi-
scher Freiheit genossen; dafür aber war die Gebundenheit
des Individuums an die kommunale Gemeinschaft die denkbar
engste, so sehr, dass überhaupt kein Privateigentum an Grund
und Boden bestand, sondern allein die Kommune diesen
besass. Der engen Eingeschlossenheit in den Kreis der Ge-
meinde, die dem Individuum den persönlichen Besitz und
gewiss auch oft die persönliche Beweglichkeit versagte, ent-
sprach der Mangel an bindenden Beziehungen zu einem wei-
teren politischen Kreise. Die Kreise der socialen Interessen
liegen konzentrisch um uns: je enger sie uns umschliessen,
desto kleiner müssen sie sein. Nun ist aber der Mensch nie
blosses Kollektivwesen, wie er nie blosses Individualwesen ist;
darum handelt es sich hier natürlich nur um ein Mehr oder
Minder und nur um einzelne Seiten und Bestimmungen der
Existenz, an denen sich die Entwicklung vom Übergewicht
des Einen zu dem des Andern zeigt. Und diese Entwicklung
wird Stadien haben können, in denen die Zugehörigkeiten zu
dem kleinen wie zu dem grösseren socialen Kreise neben-
einander in charakteristischen Folgen hervortreten. Während
also die Hingabe an einen engeren Kreis im allgemeinen dem

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Gröſsen unterschiede der socialen Gruppen nur die häufigste
Gelegenheit zum Hervortreten bieten, die sich indes auch
aus andern Veranlassungen zeigt. So bemerken wir z. B. bei
gewissen Völkern, wo das Extravagante, Überspannte, launen-
haft Impulsive sehr vorherrscht, doch eine sklavische Fesse-
lung an die Mode. Die Verrücktheit, die Einer begeht, wird
automatenhaft von allen andern nachgeäfft. Andere dagegen
mit mehr nüchterner und soldatisch zugeschnittener Form
des Lebens, die als Ganzes lange nicht so bunt ist, haben
doch einen viel stärkeren Individualitätstrieb, unterscheiden
sich innerhalb ihres gleichförmigen und einfachen Lebens-
stiles viel schärfer und prägnanter voneinander, als jene in
ihrer bunten und wechselnden Art. So hat also einerseits
das Ganze sehr individuellen Charakter, aber seine Teile sind
untereinander sehr gleich; andererseits ist das Ganze farbloser,
weniger nach einem Extrem zu gebildet, aber seine Teile sind
untereinander stark differenziert. Im Augenblick indessen
kommt es uns hauptsächlich auf das Korrelationsverhältnis
an, das sich an den Umfang der socialen Kreise knüpft und
die Freiheit der Gruppe mit der Gebundenheit des Indivi-
duums zu verbinden pflegt; ein gutes Beispiel davon zeigt
das Zusammenbestehen kommunaler Gebundenheit mit politi-
scher Freiheit, wie wir es in der russischen Verfassung der
vorzarischen Zeit finden. Besonders in der Epoche der
Mongolenkämpfe gab es in Ruſsland eine groſse Anzahl terri-
torialer Einheiten, Fürstentümer, Städte, Dorfgemeinden, welche
untereinander von keinem einheitlichen staatlichen Bande zu-
sammengehalten wurden und also als Ganze groſser politi-
scher Freiheit genossen; dafür aber war die Gebundenheit
des Individuums an die kommunale Gemeinschaft die denkbar
engste, so sehr, daſs überhaupt kein Privateigentum an Grund
und Boden bestand, sondern allein die Kommune diesen
besaſs. Der engen Eingeschlossenheit in den Kreis der Ge-
meinde, die dem Individuum den persönlichen Besitz und
gewiſs auch oft die persönliche Beweglichkeit versagte, ent-
sprach der Mangel an bindenden Beziehungen zu einem wei-
teren politischen Kreise. Die Kreise der socialen Interessen
liegen konzentrisch um uns: je enger sie uns umschlieſsen,
desto kleiner müssen sie sein. Nun ist aber der Mensch nie
bloſses Kollektivwesen, wie er nie bloſses Individualwesen ist;
darum handelt es sich hier natürlich nur um ein Mehr oder
Minder und nur um einzelne Seiten und Bestimmungen der
Existenz, an denen sich die Entwicklung vom Übergewicht
des Einen zu dem des Andern zeigt. Und diese Entwicklung
wird Stadien haben können, in denen die Zugehörigkeiten zu
dem kleinen wie zu dem gröſseren socialen Kreise neben-
einander in charakteristischen Folgen hervortreten. Während
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[50/0064] X 1. Gröſsen unterschiede der socialen Gruppen nur die häufigste Gelegenheit zum Hervortreten bieten, die sich indes auch aus andern Veranlassungen zeigt. So bemerken wir z. B. bei gewissen Völkern, wo das Extravagante, Überspannte, launen- haft Impulsive sehr vorherrscht, doch eine sklavische Fesse- lung an die Mode. Die Verrücktheit, die Einer begeht, wird automatenhaft von allen andern nachgeäfft. Andere dagegen mit mehr nüchterner und soldatisch zugeschnittener Form des Lebens, die als Ganzes lange nicht so bunt ist, haben doch einen viel stärkeren Individualitätstrieb, unterscheiden sich innerhalb ihres gleichförmigen und einfachen Lebens- stiles viel schärfer und prägnanter voneinander, als jene in ihrer bunten und wechselnden Art. So hat also einerseits das Ganze sehr individuellen Charakter, aber seine Teile sind untereinander sehr gleich; andererseits ist das Ganze farbloser, weniger nach einem Extrem zu gebildet, aber seine Teile sind untereinander stark differenziert. Im Augenblick indessen kommt es uns hauptsächlich auf das Korrelationsverhältnis an, das sich an den Umfang der socialen Kreise knüpft und die Freiheit der Gruppe mit der Gebundenheit des Indivi- duums zu verbinden pflegt; ein gutes Beispiel davon zeigt das Zusammenbestehen kommunaler Gebundenheit mit politi- scher Freiheit, wie wir es in der russischen Verfassung der vorzarischen Zeit finden. Besonders in der Epoche der Mongolenkämpfe gab es in Ruſsland eine groſse Anzahl terri- torialer Einheiten, Fürstentümer, Städte, Dorfgemeinden, welche untereinander von keinem einheitlichen staatlichen Bande zu- sammengehalten wurden und also als Ganze groſser politi- scher Freiheit genossen; dafür aber war die Gebundenheit des Individuums an die kommunale Gemeinschaft die denkbar engste, so sehr, daſs überhaupt kein Privateigentum an Grund und Boden bestand, sondern allein die Kommune diesen besaſs. Der engen Eingeschlossenheit in den Kreis der Ge- meinde, die dem Individuum den persönlichen Besitz und gewiſs auch oft die persönliche Beweglichkeit versagte, ent- sprach der Mangel an bindenden Beziehungen zu einem wei- teren politischen Kreise. Die Kreise der socialen Interessen liegen konzentrisch um uns: je enger sie uns umschlieſsen, desto kleiner müssen sie sein. Nun ist aber der Mensch nie bloſses Kollektivwesen, wie er nie bloſses Individualwesen ist; darum handelt es sich hier natürlich nur um ein Mehr oder Minder und nur um einzelne Seiten und Bestimmungen der Existenz, an denen sich die Entwicklung vom Übergewicht des Einen zu dem des Andern zeigt. Und diese Entwicklung wird Stadien haben können, in denen die Zugehörigkeiten zu dem kleinen wie zu dem gröſseren socialen Kreise neben- einander in charakteristischen Folgen hervortreten. Während also die Hingabe an einen engeren Kreis im allgemeinen dem

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/64>, abgerufen am 24.11.2024.