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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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sache davon nicht etwa in einer Kollektivsittlichkeit, sondern
in dem Zusammentreffen egoistischer Ziele mit einer der-
artigen Grösse des socialen Kreises, dass jene nur durch eine
Reihe von Umwegen altruistischer Natur zu erreichen sind.

In etwas höherem Grade lässt eine andere Station des
gleichen Umweges die Sittlichkeit im Handeln des Einzelnen
als Resultat einer Kollektivsittlichkeit erscheinen. Nicht nur
Menschen brauchen wir zu unsern Zwecken, sondern auch
objektive Einrichtungen. Die Festsetzungen des Rechts, der
Sitte, der Verkehrsformen jeder Art, die die Allgemeinheit
zu ihrem Nutzen, d. h. im sittlichen Interesse, geprägt hat,
erstrecken sich schliesslich soweit in alle Lebensverhältnisse
des Einzelnen hinein, dass er in jedem Augenblick von ihnen
Gebrauch machen muss. Auch die egoistischsten Absichten
können, abgesehen von unmittelbarer Gewaltthat, nicht anders
verwirklicht werden als in den social vorgeschriebenen
Formen. Mit jedem Male aber, wo man sich dieser Formen
bedient, werden sie gestärkt, und dadurch muss die unsitt-
lichste Absicht gewissermassen der Sittlichkeit ihre Steuer
entrichten, indem sie die Formen anwendet, in denen die
öffentliche Moral objektiv geworden ist. Es ist die Aufgabe
der fortschreitenden Socialisierung, diese Steuer immer zu er-
höhen, so dass der Weg zur Unsittlichkeit, der freilich nie
ganz verlegt werden kann, wenigstens durch möglichst viele
Gebiete des Sittlichen hindurchgehen muss und so den Weg
durch sie verbreitern und festigen hilft. Der Gauner, der eine
betrügerische Transaktion in streng rechtlichen Formen voll-
zieht, der Schurke, der die Regeln der gesellschaftlichen Höf-
lichkeit genau beobachtet, der Sybarit, dessen unsittlich ver-
schwenderische Ausgaben sich wenigstens in den ökonomischen
Formen vollziehen, die seine Gruppe als die zweckmässigsten
konstituiert hat, der Heuchler, der um irgend welcher per-
sönlichen Zwecke willen sein Leben nach religiösen Normen
einrichtet, -- sie alle leisten der Sittlichkeit, der Förderung
des Allgemeinen sozusagen im Vorbeigehen einen Beitrag, an
dem das Verdienst freilich nicht ihrem Willen, sondern der
socialen Verfassung zuzuschreiben ist, die den Einzelnen in
seinen unsittlichen Bestrebungen auf Wege zwingt, auf denen
er den öffentlichen Institutionen und damit dem öffentlichen
Wohle steuerpflichtig wird.

Die besprochene Abwälzung der individuellen Schuld auf
die Gesellschaft gehört im übrigen zu denjenigen Erkennt-
nissen, deren Verbreitung der Socialpädagogik bedenklich er-
scheinen könnte. Denn sie möchte leicht zu einer Art Ablass
für die persönliche Schuld werden, und in dem Masse, in dem
das Gewissen sich erleichtert fühlt, dürfte die Verführung zur
That wachsen. Der Gewinn der Unsittlichkeit bleibt dem
Individuum, während sozusagen die moralischen Unkosten der

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sache davon nicht etwa in einer Kollektivsittlichkeit, sondern
in dem Zusammentreffen egoistischer Ziele mit einer der-
artigen Gröſse des socialen Kreises, daſs jene nur durch eine
Reihe von Umwegen altruistischer Natur zu erreichen sind.

In etwas höherem Grade läſst eine andere Station des
gleichen Umweges die Sittlichkeit im Handeln des Einzelnen
als Resultat einer Kollektivsittlichkeit erscheinen. Nicht nur
Menschen brauchen wir zu unsern Zwecken, sondern auch
objektive Einrichtungen. Die Festsetzungen des Rechts, der
Sitte, der Verkehrsformen jeder Art, die die Allgemeinheit
zu ihrem Nutzen, d. h. im sittlichen Interesse, geprägt hat,
erstrecken sich schlieſslich soweit in alle Lebensverhältnisse
des Einzelnen hinein, daſs er in jedem Augenblick von ihnen
Gebrauch machen muſs. Auch die egoistischsten Absichten
können, abgesehen von unmittelbarer Gewaltthat, nicht anders
verwirklicht werden als in den social vorgeschriebenen
Formen. Mit jedem Male aber, wo man sich dieser Formen
bedient, werden sie gestärkt, und dadurch muſs die unsitt-
lichste Absicht gewissermaſsen der Sittlichkeit ihre Steuer
entrichten, indem sie die Formen anwendet, in denen die
öffentliche Moral objektiv geworden ist. Es ist die Aufgabe
der fortschreitenden Socialisierung, diese Steuer immer zu er-
höhen, so daſs der Weg zur Unsittlichkeit, der freilich nie
ganz verlegt werden kann, wenigstens durch möglichst viele
Gebiete des Sittlichen hindurchgehen muſs und so den Weg
durch sie verbreitern und festigen hilft. Der Gauner, der eine
betrügerische Transaktion in streng rechtlichen Formen voll-
zieht, der Schurke, der die Regeln der gesellschaftlichen Höf-
lichkeit genau beobachtet, der Sybarit, dessen unsittlich ver-
schwenderische Ausgaben sich wenigstens in den ökonomischen
Formen vollziehen, die seine Gruppe als die zweckmäſsigsten
konstituiert hat, der Heuchler, der um irgend welcher per-
sönlichen Zwecke willen sein Leben nach religiösen Normen
einrichtet, — sie alle leisten der Sittlichkeit, der Förderung
des Allgemeinen sozusagen im Vorbeigehen einen Beitrag, an
dem das Verdienst freilich nicht ihrem Willen, sondern der
socialen Verfassung zuzuschreiben ist, die den Einzelnen in
seinen unsittlichen Bestrebungen auf Wege zwingt, auf denen
er den öffentlichen Institutionen und damit dem öffentlichen
Wohle steuerpflichtig wird.

Die besprochene Abwälzung der individuellen Schuld auf
die Gesellschaft gehört im übrigen zu denjenigen Erkennt-
nissen, deren Verbreitung der Socialpädagogik bedenklich er-
scheinen könnte. Denn sie möchte leicht zu einer Art Ablaſs
für die persönliche Schuld werden, und in dem Maſse, in dem
das Gewissen sich erleichtert fühlt, dürfte die Verführung zur
That wachsen. Der Gewinn der Unsittlichkeit bleibt dem
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[43/0057] X 1. sache davon nicht etwa in einer Kollektivsittlichkeit, sondern in dem Zusammentreffen egoistischer Ziele mit einer der- artigen Gröſse des socialen Kreises, daſs jene nur durch eine Reihe von Umwegen altruistischer Natur zu erreichen sind. In etwas höherem Grade läſst eine andere Station des gleichen Umweges die Sittlichkeit im Handeln des Einzelnen als Resultat einer Kollektivsittlichkeit erscheinen. Nicht nur Menschen brauchen wir zu unsern Zwecken, sondern auch objektive Einrichtungen. Die Festsetzungen des Rechts, der Sitte, der Verkehrsformen jeder Art, die die Allgemeinheit zu ihrem Nutzen, d. h. im sittlichen Interesse, geprägt hat, erstrecken sich schlieſslich soweit in alle Lebensverhältnisse des Einzelnen hinein, daſs er in jedem Augenblick von ihnen Gebrauch machen muſs. Auch die egoistischsten Absichten können, abgesehen von unmittelbarer Gewaltthat, nicht anders verwirklicht werden als in den social vorgeschriebenen Formen. Mit jedem Male aber, wo man sich dieser Formen bedient, werden sie gestärkt, und dadurch muſs die unsitt- lichste Absicht gewissermaſsen der Sittlichkeit ihre Steuer entrichten, indem sie die Formen anwendet, in denen die öffentliche Moral objektiv geworden ist. Es ist die Aufgabe der fortschreitenden Socialisierung, diese Steuer immer zu er- höhen, so daſs der Weg zur Unsittlichkeit, der freilich nie ganz verlegt werden kann, wenigstens durch möglichst viele Gebiete des Sittlichen hindurchgehen muſs und so den Weg durch sie verbreitern und festigen hilft. Der Gauner, der eine betrügerische Transaktion in streng rechtlichen Formen voll- zieht, der Schurke, der die Regeln der gesellschaftlichen Höf- lichkeit genau beobachtet, der Sybarit, dessen unsittlich ver- schwenderische Ausgaben sich wenigstens in den ökonomischen Formen vollziehen, die seine Gruppe als die zweckmäſsigsten konstituiert hat, der Heuchler, der um irgend welcher per- sönlichen Zwecke willen sein Leben nach religiösen Normen einrichtet, — sie alle leisten der Sittlichkeit, der Förderung des Allgemeinen sozusagen im Vorbeigehen einen Beitrag, an dem das Verdienst freilich nicht ihrem Willen, sondern der socialen Verfassung zuzuschreiben ist, die den Einzelnen in seinen unsittlichen Bestrebungen auf Wege zwingt, auf denen er den öffentlichen Institutionen und damit dem öffentlichen Wohle steuerpflichtig wird. Die besprochene Abwälzung der individuellen Schuld auf die Gesellschaft gehört im übrigen zu denjenigen Erkennt- nissen, deren Verbreitung der Socialpädagogik bedenklich er- scheinen könnte. Denn sie möchte leicht zu einer Art Ablaſs für die persönliche Schuld werden, und in dem Maſse, in dem das Gewissen sich erleichtert fühlt, dürfte die Verführung zur That wachsen. Der Gewinn der Unsittlichkeit bleibt dem Individuum, während sozusagen die moralischen Unkosten der

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/57>, abgerufen am 03.05.2024.