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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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die von neuesten anthropologischen Forschungen bestätigte
Behauptung aufstellen, dass Laster sehr häufig gar nichts an-
deres sind als Atavismen.

Wir wissen, dass Raub und Mord, Lüge und Gewaltthat
jeder Art in früheren Zuständen unseres Geschlechtes eine
ganz andere Beurteilung erfuhren als jetzt; sie waren, gegen
den fremden Stamm gerichtet, teils gleichgiltige Privatsache,
teils gepriesene Heldenthaten, innerhalb des eigenen Stammes
aber unentbehrliche Mittel der Kultursteigerung, indem sie
einerseits eine Zuchtwahl zu gunsten der Kräftigen und
Klugen einleiteten, andererseits die Mittel der Tyrannis und
der Versklavung wurden, von denen die erste Disziplinierung
und Arbeitsteilung unter den Massen ausging. Eben dieselben
Handlungsweisen aber sind unter späteren Verhältnissen laster-
haft, und so ist gewiss das Laster oft ein Vererbungsrück-
schlag in jene frühere Entwicklungsstufe unseres Geschlechts,
in der es eben noch nicht Laster war. Ein hervorragender
Anatom hat die Bemerkung gemacht, die ich für höchst fol-
genreich halte: es lasse sich nachweisen, dass alles das, was
wir als körperliche Hässlichkeit beurteilen, eine Ähnlichkeit
mit dem Typus der niederen Tiere, einen Rückfall in ihn
aufweise. So ist vielleicht seelische Hässlichkeit ein Rück fall
in die Naturstufe, der durch das disharmonische und destruk-
tive Verhältnis, das aus seinem Hineingesetztsein in ganz ver-
änderte Umstände hervorgeht, als Laster erscheint. Damit
stimmt zusammen, dass mit specifischen Lastern sehr häufig
Rohheit und Wildheit des ganzen Wesens, also offenbar ein
allgemeiner Atavismus verbunden ist; und ferner: sehr viele
Laster finden in den kindlichen Ungezogenheiten ihre Par-
allele, wie die Neigung zur Lüge, die Grausamkeit, die Zer-
störungslust, die rücksichtslose Selbstsucht, ungefähr wie man
nachgewiesen hat, dass alle Sprachstörungen Erwachsener ihr
genaues Gegenbild in den Unvollkommenheiten des kindlichen
Sprechens haben. Und da nun aller Wahrscheinlichkeit nach
überhaupt die Kindheit des Individuums die Kindheit seiner
Gattung wenigstens in den Hauptzügen wiederholt, so ist an-
zunehmen, dass die moralischen Unzulänglichkeiten jener die
durchgehenden Eigenschaften dieser abspiegeln; und wenn
wir nun das Kind von eigentlicher Schuld für solche Fehler
entlasten, weil wir wissen, dass es eben in stärkstem Masse
das Produkt der Gattungsvererbungen ist, so wird das
Gleiche für denjenigen gelten, der durch atavistischen Rück-
schlag auf jener moralischen Stufe der Gattungsentwicklung
stehen geblieben ist, die der normale Mensch als Kind in ab-
gekürzter Form durchläuft und überwindet, die aber nur da-
durch einstmals in der Gattung fixiert werden konnte, dass
sie zulässig und nützlich war. In diesem Fall aber lastet die
moralische Schuld der Handlung, die der Thäter seinem Erb-

X 1.
die von neuesten anthropologischen Forschungen bestätigte
Behauptung aufstellen, daſs Laster sehr häufig gar nichts an-
deres sind als Atavismen.

Wir wissen, daſs Raub und Mord, Lüge und Gewaltthat
jeder Art in früheren Zuständen unseres Geschlechtes eine
ganz andere Beurteilung erfuhren als jetzt; sie waren, gegen
den fremden Stamm gerichtet, teils gleichgiltige Privatsache,
teils gepriesene Heldenthaten, innerhalb des eigenen Stammes
aber unentbehrliche Mittel der Kultursteigerung, indem sie
einerseits eine Zuchtwahl zu gunsten der Kräftigen und
Klugen einleiteten, andererseits die Mittel der Tyrannis und
der Versklavung wurden, von denen die erste Disziplinierung
und Arbeitsteilung unter den Massen ausging. Eben dieselben
Handlungsweisen aber sind unter späteren Verhältnissen laster-
haft, und so ist gewiſs das Laster oft ein Vererbungsrück-
schlag in jene frühere Entwicklungsstufe unseres Geschlechts,
in der es eben noch nicht Laster war. Ein hervorragender
Anatom hat die Bemerkung gemacht, die ich für höchst fol-
genreich halte: es lasse sich nachweisen, daſs alles das, was
wir als körperliche Häſslichkeit beurteilen, eine Ähnlichkeit
mit dem Typus der niederen Tiere, einen Rückfall in ihn
aufweise. So ist vielleicht seelische Häſslichkeit ein Rück fall
in die Naturstufe, der durch das disharmonische und destruk-
tive Verhältnis, das aus seinem Hineingesetztsein in ganz ver-
änderte Umstände hervorgeht, als Laster erscheint. Damit
stimmt zusammen, daſs mit specifischen Lastern sehr häufig
Rohheit und Wildheit des ganzen Wesens, also offenbar ein
allgemeiner Atavismus verbunden ist; und ferner: sehr viele
Laster finden in den kindlichen Ungezogenheiten ihre Par-
allele, wie die Neigung zur Lüge, die Grausamkeit, die Zer-
störungslust, die rücksichtslose Selbstsucht, ungefähr wie man
nachgewiesen hat, daſs alle Sprachstörungen Erwachsener ihr
genaues Gegenbild in den Unvollkommenheiten des kindlichen
Sprechens haben. Und da nun aller Wahrscheinlichkeit nach
überhaupt die Kindheit des Individuums die Kindheit seiner
Gattung wenigstens in den Hauptzügen wiederholt, so ist an-
zunehmen, daſs die moralischen Unzulänglichkeiten jener die
durchgehenden Eigenschaften dieser abspiegeln; und wenn
wir nun das Kind von eigentlicher Schuld für solche Fehler
entlasten, weil wir wissen, daſs es eben in stärkstem Maſse
das Produkt der Gattungsvererbungen ist, so wird das
Gleiche für denjenigen gelten, der durch atavistischen Rück-
schlag auf jener moralischen Stufe der Gattungsentwicklung
stehen geblieben ist, die der normale Mensch als Kind in ab-
gekürzter Form durchläuft und überwindet, die aber nur da-
durch einstmals in der Gattung fixiert werden konnte, daſs
sie zulässig und nützlich war. In diesem Fall aber lastet die
moralische Schuld der Handlung, die der Thäter seinem Erb-

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[40/0054] X 1. die von neuesten anthropologischen Forschungen bestätigte Behauptung aufstellen, daſs Laster sehr häufig gar nichts an- deres sind als Atavismen. Wir wissen, daſs Raub und Mord, Lüge und Gewaltthat jeder Art in früheren Zuständen unseres Geschlechtes eine ganz andere Beurteilung erfuhren als jetzt; sie waren, gegen den fremden Stamm gerichtet, teils gleichgiltige Privatsache, teils gepriesene Heldenthaten, innerhalb des eigenen Stammes aber unentbehrliche Mittel der Kultursteigerung, indem sie einerseits eine Zuchtwahl zu gunsten der Kräftigen und Klugen einleiteten, andererseits die Mittel der Tyrannis und der Versklavung wurden, von denen die erste Disziplinierung und Arbeitsteilung unter den Massen ausging. Eben dieselben Handlungsweisen aber sind unter späteren Verhältnissen laster- haft, und so ist gewiſs das Laster oft ein Vererbungsrück- schlag in jene frühere Entwicklungsstufe unseres Geschlechts, in der es eben noch nicht Laster war. Ein hervorragender Anatom hat die Bemerkung gemacht, die ich für höchst fol- genreich halte: es lasse sich nachweisen, daſs alles das, was wir als körperliche Häſslichkeit beurteilen, eine Ähnlichkeit mit dem Typus der niederen Tiere, einen Rückfall in ihn aufweise. So ist vielleicht seelische Häſslichkeit ein Rück fall in die Naturstufe, der durch das disharmonische und destruk- tive Verhältnis, das aus seinem Hineingesetztsein in ganz ver- änderte Umstände hervorgeht, als Laster erscheint. Damit stimmt zusammen, daſs mit specifischen Lastern sehr häufig Rohheit und Wildheit des ganzen Wesens, also offenbar ein allgemeiner Atavismus verbunden ist; und ferner: sehr viele Laster finden in den kindlichen Ungezogenheiten ihre Par- allele, wie die Neigung zur Lüge, die Grausamkeit, die Zer- störungslust, die rücksichtslose Selbstsucht, ungefähr wie man nachgewiesen hat, daſs alle Sprachstörungen Erwachsener ihr genaues Gegenbild in den Unvollkommenheiten des kindlichen Sprechens haben. Und da nun aller Wahrscheinlichkeit nach überhaupt die Kindheit des Individuums die Kindheit seiner Gattung wenigstens in den Hauptzügen wiederholt, so ist an- zunehmen, daſs die moralischen Unzulänglichkeiten jener die durchgehenden Eigenschaften dieser abspiegeln; und wenn wir nun das Kind von eigentlicher Schuld für solche Fehler entlasten, weil wir wissen, daſs es eben in stärkstem Maſse das Produkt der Gattungsvererbungen ist, so wird das Gleiche für denjenigen gelten, der durch atavistischen Rück- schlag auf jener moralischen Stufe der Gattungsentwicklung stehen geblieben ist, die der normale Mensch als Kind in ab- gekürzter Form durchläuft und überwindet, die aber nur da- durch einstmals in der Gattung fixiert werden konnte, daſs sie zulässig und nützlich war. In diesem Fall aber lastet die moralische Schuld der Handlung, die der Thäter seinem Erb-

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/54>, abgerufen am 24.11.2024.