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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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wird uns von Naturvölkern berichtet, dass sie die Vorstellung
eines Menschen, die sein Bild hervorruft, nicht von der seiner
wirklichen Gegenwart zu unterscheiden wissen. Je unklarer
und verworrener das Denken ist, desto unmittelbarer zieht die
Association auf Grund irgend einer Äusserlichkeit die Identi-
fizierung der Objekte auch in jeder anderen Beziehung nach
sich, und in demselben Masse, in dem dieses psychologische
Verhalten überhaupt statt ruhiger Sachlichkeit eine vorschnelle
Subjektivität herrschen lässt, wird es ohne weiteres diejenigen
Empfindungen und Handlungsweisen, die einer bestimmten
Person aus sachlichen Gründen gelten, auf den ganzen Kreis
derjenigen übertragen, die durch irgend welche Gleichheiten
die Association hervorrufen.

Andererseits aber bedarf es einer Gleichheit erscheinender
Eigenschaften nicht, um die Gesamtheit einer Gruppe für die
That eines ihrer Mitglieder verantwortbar zu machen, sobald
funktionelle Verbindungen, Einheit der Zwecke, gegenseitige
Ergänzung, gemeinsames Verhalten zu einem Oberhaupt u. s. w.
stattfinden. Hier liegt, glaube ich, der Haupterklärungsgrund
für das Problem, von dem wir ausgingen. Die feindselige
Aktion gegen den fremden Stamm, handle es sich nun um
Erbeutung von Frauen, Sklaven oder sonstigem Besitz, um
Befriedigung eines Rachegefühls oder um was immer, wird
kaum je von einem Einzelnen unternommen, sondern immer
in Gemeinschaft wenigstens mit einem wesentlichen Teile der
Stammesgenossen; schon deshalb ist das nötig, weil, wenn sich
der Angriff auch nur gegen ein einzelnes Mitglied eines
fremden Stammes richtet, dennoch dieser als ganzer zu dessen
Verteidigung herbeieilt; und dies wiederum geschieht nicht
nur, weil die angegriffene Persönlichkeit vielleicht dem Gan-
zen von Nutzen ist, sondern weil jeder weiss, dass das Ge-
lingen des ersten Angriffes dem zweiten Thür und Thor
öffnet, und dass der Feind, der heut den Nachbar beraubt
hat, sich morgen mit gewachsener Kraft gegen ihn selber
wenden wird. Diese Analogisierung des eigenen Schicksals
mit dem des Nachbars ist einer der mächtigsten Hebel der
Vergesellschaftung überhaupt, indem sie die Beschränkung
des Handelns auf das unmittelbare eigene Interesse aufhebt
und das letztere durch den Zusammenschluss gewahrt sieht,
der zunächst nur dem anderen zugute kommt. In jedem Fall
ist klar, wie die Vereinigung zur Offensive und die zur De-
fensive in Wechselwirkung stehen, wie der Angriff nur in der
Zusammenwirkung der Vielen erfolgreich ist, weil die Ver-
teidigung die Vielen aufruft, und umgekehrt dies nötig ist,
weil der Angriff ein kombinierter zu sein pflegt. Die Folge
muss die sein, dass in allen feindlichen Begegnungen, in denen
also jeder einer Gesamtheit gegenübersteht, er auch in jedem
Gegner nicht sowohl diese bestimmte Person, als vielmehr ein

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wird uns von Naturvölkern berichtet, daſs sie die Vorstellung
eines Menschen, die sein Bild hervorruft, nicht von der seiner
wirklichen Gegenwart zu unterscheiden wissen. Je unklarer
und verworrener das Denken ist, desto unmittelbarer zieht die
Association auf Grund irgend einer Äuſserlichkeit die Identi-
fizierung der Objekte auch in jeder anderen Beziehung nach
sich, und in demselben Maſse, in dem dieses psychologische
Verhalten überhaupt statt ruhiger Sachlichkeit eine vorschnelle
Subjektivität herrschen läſst, wird es ohne weiteres diejenigen
Empfindungen und Handlungsweisen, die einer bestimmten
Person aus sachlichen Gründen gelten, auf den ganzen Kreis
derjenigen übertragen, die durch irgend welche Gleichheiten
die Association hervorrufen.

Andererseits aber bedarf es einer Gleichheit erscheinender
Eigenschaften nicht, um die Gesamtheit einer Gruppe für die
That eines ihrer Mitglieder verantwortbar zu machen, sobald
funktionelle Verbindungen, Einheit der Zwecke, gegenseitige
Ergänzung, gemeinsames Verhalten zu einem Oberhaupt u. s. w.
stattfinden. Hier liegt, glaube ich, der Haupterklärungsgrund
für das Problem, von dem wir ausgingen. Die feindselige
Aktion gegen den fremden Stamm, handle es sich nun um
Erbeutung von Frauen, Sklaven oder sonstigem Besitz, um
Befriedigung eines Rachegefühls oder um was immer, wird
kaum je von einem Einzelnen unternommen, sondern immer
in Gemeinschaft wenigstens mit einem wesentlichen Teile der
Stammesgenossen; schon deshalb ist das nötig, weil, wenn sich
der Angriff auch nur gegen ein einzelnes Mitglied eines
fremden Stammes richtet, dennoch dieser als ganzer zu dessen
Verteidigung herbeieilt; und dies wiederum geschieht nicht
nur, weil die angegriffene Persönlichkeit vielleicht dem Gan-
zen von Nutzen ist, sondern weil jeder weiſs, daſs das Ge-
lingen des ersten Angriffes dem zweiten Thür und Thor
öffnet, und daſs der Feind, der heut den Nachbar beraubt
hat, sich morgen mit gewachsener Kraft gegen ihn selber
wenden wird. Diese Analogisierung des eigenen Schicksals
mit dem des Nachbars ist einer der mächtigsten Hebel der
Vergesellschaftung überhaupt, indem sie die Beschränkung
des Handelns auf das unmittelbare eigene Interesse aufhebt
und das letztere durch den Zusammenschluſs gewahrt sieht,
der zunächst nur dem anderen zugute kommt. In jedem Fall
ist klar, wie die Vereinigung zur Offensive und die zur De-
fensive in Wechselwirkung stehen, wie der Angriff nur in der
Zusammenwirkung der Vielen erfolgreich ist, weil die Ver-
teidigung die Vielen aufruft, und umgekehrt dies nötig ist,
weil der Angriff ein kombinierter zu sein pflegt. Die Folge
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[28/0042] X 1. wird uns von Naturvölkern berichtet, daſs sie die Vorstellung eines Menschen, die sein Bild hervorruft, nicht von der seiner wirklichen Gegenwart zu unterscheiden wissen. Je unklarer und verworrener das Denken ist, desto unmittelbarer zieht die Association auf Grund irgend einer Äuſserlichkeit die Identi- fizierung der Objekte auch in jeder anderen Beziehung nach sich, und in demselben Maſse, in dem dieses psychologische Verhalten überhaupt statt ruhiger Sachlichkeit eine vorschnelle Subjektivität herrschen läſst, wird es ohne weiteres diejenigen Empfindungen und Handlungsweisen, die einer bestimmten Person aus sachlichen Gründen gelten, auf den ganzen Kreis derjenigen übertragen, die durch irgend welche Gleichheiten die Association hervorrufen. Andererseits aber bedarf es einer Gleichheit erscheinender Eigenschaften nicht, um die Gesamtheit einer Gruppe für die That eines ihrer Mitglieder verantwortbar zu machen, sobald funktionelle Verbindungen, Einheit der Zwecke, gegenseitige Ergänzung, gemeinsames Verhalten zu einem Oberhaupt u. s. w. stattfinden. Hier liegt, glaube ich, der Haupterklärungsgrund für das Problem, von dem wir ausgingen. Die feindselige Aktion gegen den fremden Stamm, handle es sich nun um Erbeutung von Frauen, Sklaven oder sonstigem Besitz, um Befriedigung eines Rachegefühls oder um was immer, wird kaum je von einem Einzelnen unternommen, sondern immer in Gemeinschaft wenigstens mit einem wesentlichen Teile der Stammesgenossen; schon deshalb ist das nötig, weil, wenn sich der Angriff auch nur gegen ein einzelnes Mitglied eines fremden Stammes richtet, dennoch dieser als ganzer zu dessen Verteidigung herbeieilt; und dies wiederum geschieht nicht nur, weil die angegriffene Persönlichkeit vielleicht dem Gan- zen von Nutzen ist, sondern weil jeder weiſs, daſs das Ge- lingen des ersten Angriffes dem zweiten Thür und Thor öffnet, und daſs der Feind, der heut den Nachbar beraubt hat, sich morgen mit gewachsener Kraft gegen ihn selber wenden wird. Diese Analogisierung des eigenen Schicksals mit dem des Nachbars ist einer der mächtigsten Hebel der Vergesellschaftung überhaupt, indem sie die Beschränkung des Handelns auf das unmittelbare eigene Interesse aufhebt und das letztere durch den Zusammenschluſs gewahrt sieht, der zunächst nur dem anderen zugute kommt. In jedem Fall ist klar, wie die Vereinigung zur Offensive und die zur De- fensive in Wechselwirkung stehen, wie der Angriff nur in der Zusammenwirkung der Vielen erfolgreich ist, weil die Ver- teidigung die Vielen aufruft, und umgekehrt dies nötig ist, weil der Angriff ein kombinierter zu sein pflegt. Die Folge muſs die sein, daſs in allen feindlichen Begegnungen, in denen also jeder einer Gesamtheit gegenübersteht, er auch in jedem Gegner nicht sowohl diese bestimmte Person, als vielmehr ein

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/42>, abgerufen am 29.03.2024.