Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite

X 1.
heitlichung abgiebt: die Wechselwirkung der Teile. Wir be-
zeichnen jeden Gegenstand in demselben Masse als einheitlich,
in dem seine Teile in gegenseitigen dynamischen Beziehungen
stehen. Darum gewährt ein Lebewesen so besonders die Er-
scheinung von Einheit, weil wir in ihm die energischste Wir-
kung jedes Teils auf jeden beobachten, während der Zu-
sammenhang eines unorganischen Naturgebildes schwach genug
ist, um nach Abtrennung eines Teiles die andern in ihren
Eigenschaften und Funktionen im wesentlichen unverletzt zu
lassen. Innerhalb des persönlichen Seelenlebens ist trotz der
vorhin erwähnten Diskrepanz seiner Inhalte doch die funk-
tionelle Beziehung höchst eng; jede entlegenste oder noch so
lange vergangene Vorstellung kann so sehr auf jede andere
wirken, dass hierfür freilich die Vorstellung einer Einheit von
dieser Seite her die grösste Berechtigung besitzt. Natürlich
sind die Unterschiede solcher Berechtigungen nur gradweise;
als regulatives Weltprinzip müssen wir annehmen, dass Alles
mit Allem in irgend einer Wechselwirkung steht, dass zwischen
jedem Punkte der Welt und jedem andern Kräfte und hin-
und hergehende Beziehungen bestehen; es kann uns deshalb
logisch nicht verwehrt werden, beliebige Einheiten herauszu-
greifen und sie zu dem Begriff eines Wesens zusammenzu-
schliessen, dessen Natur und Bewegungen wir nach histori-
schen wie gesetzlichen Gesichtspunkten festzustellen hätten.
Das Entscheidende hierbei ist nur, welche Zusammenfassung
wissenschaftlich zweckmässig ist, wo die Wechselwirkung
zwischen Wesen kräftig genug ist, um durch ihre isolierte
Behandlung gegenüber den Wechselwirkungen jedes derselben
mit allen andern Wesen eine hervorragende Aufklärung zu
versprechen, wobei es hauptsächlich darauf ankommt, ob die
behandelte Kombination eine häufige ist, so dass die Erkenntnis
derselben typisch sein kann und, wenn auch nicht Gesetz-
mässigkeit, die für die Erkenntnis den Wirkungen der ein-
fachen Teile vorbehalten ist, so doch Regelmässigkeiten nach-
weist. Die Auflösung der Gesellschaftsseele in die Summe
der Wechselwirkungen ihrer Teilhaber liegt in der Richtung
des modernen Geisteslebens überhaupt: das Feste, sich selbst
Gleiche, Substantielle in Funktion, Kraft, Bewegung aufzu-
lösen und in allem Sein den historischen Prozess seines Wer-
dens zu erkennen. Dass nun eine Wechselwirkung der Teile
unter dem statt hat, was wir eine Gesellschaft nennen, wird
niemand leugnen. Ein in sich völlig geschlossenes Wesen,
eine absolute Einheit ist die Gesellschaft nicht, so wenig wie
das menschliche Individuum es ist. Sie ist gegenüber den
realen Wechselwirkungen der Teile nur sekundär, nur Re-
sultat, und zwar sowohl sachlich wie für die Betrachtung.
Wenn wir hier von der morphologischen Erscheinung absehen,
in der freilich der Einzelne ganz und gar das Produkt seiner

X 1.
heitlichung abgiebt: die Wechselwirkung der Teile. Wir be-
zeichnen jeden Gegenstand in demselben Maſse als einheitlich,
in dem seine Teile in gegenseitigen dynamischen Beziehungen
stehen. Darum gewährt ein Lebewesen so besonders die Er-
scheinung von Einheit, weil wir in ihm die energischste Wir-
kung jedes Teils auf jeden beobachten, während der Zu-
sammenhang eines unorganischen Naturgebildes schwach genug
ist, um nach Abtrennung eines Teiles die andern in ihren
Eigenschaften und Funktionen im wesentlichen unverletzt zu
lassen. Innerhalb des persönlichen Seelenlebens ist trotz der
vorhin erwähnten Diskrepanz seiner Inhalte doch die funk-
tionelle Beziehung höchst eng; jede entlegenste oder noch so
lange vergangene Vorstellung kann so sehr auf jede andere
wirken, daſs hierfür freilich die Vorstellung einer Einheit von
dieser Seite her die gröſste Berechtigung besitzt. Natürlich
sind die Unterschiede solcher Berechtigungen nur gradweise;
als regulatives Weltprinzip müssen wir annehmen, daſs Alles
mit Allem in irgend einer Wechselwirkung steht, daſs zwischen
jedem Punkte der Welt und jedem andern Kräfte und hin-
und hergehende Beziehungen bestehen; es kann uns deshalb
logisch nicht verwehrt werden, beliebige Einheiten herauszu-
greifen und sie zu dem Begriff eines Wesens zusammenzu-
schlieſsen, dessen Natur und Bewegungen wir nach histori-
schen wie gesetzlichen Gesichtspunkten festzustellen hätten.
Das Entscheidende hierbei ist nur, welche Zusammenfassung
wissenschaftlich zweckmäſsig ist, wo die Wechselwirkung
zwischen Wesen kräftig genug ist, um durch ihre isolierte
Behandlung gegenüber den Wechselwirkungen jedes derselben
mit allen andern Wesen eine hervorragende Aufklärung zu
versprechen, wobei es hauptsächlich darauf ankommt, ob die
behandelte Kombination eine häufige ist, so daſs die Erkenntnis
derselben typisch sein kann und, wenn auch nicht Gesetz-
mäſsigkeit, die für die Erkenntnis den Wirkungen der ein-
fachen Teile vorbehalten ist, so doch Regelmäſsigkeiten nach-
weist. Die Auflösung der Gesellschaftsseele in die Summe
der Wechselwirkungen ihrer Teilhaber liegt in der Richtung
des modernen Geisteslebens überhaupt: das Feste, sich selbst
Gleiche, Substantielle in Funktion, Kraft, Bewegung aufzu-
lösen und in allem Sein den historischen Prozeſs seines Wer-
dens zu erkennen. Daſs nun eine Wechselwirkung der Teile
unter dem statt hat, was wir eine Gesellschaft nennen, wird
niemand leugnen. Ein in sich völlig geschlossenes Wesen,
eine absolute Einheit ist die Gesellschaft nicht, so wenig wie
das menschliche Individuum es ist. Sie ist gegenüber den
realen Wechselwirkungen der Teile nur sekundär, nur Re-
sultat, und zwar sowohl sachlich wie für die Betrachtung.
Wenn wir hier von der morphologischen Erscheinung absehen,
in der freilich der Einzelne ganz und gar das Produkt seiner

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0027" n="13"/><fw place="top" type="header">X 1.</fw><lb/>
heitlichung abgiebt: die Wechselwirkung der Teile. Wir be-<lb/>
zeichnen jeden Gegenstand in demselben Ma&#x017F;se als einheitlich,<lb/>
in dem seine Teile in gegenseitigen dynamischen Beziehungen<lb/>
stehen. Darum gewährt ein Lebewesen so besonders die Er-<lb/>
scheinung von Einheit, weil wir in ihm die energischste Wir-<lb/>
kung jedes Teils auf jeden beobachten, während der Zu-<lb/>
sammenhang eines unorganischen Naturgebildes schwach genug<lb/>
ist, um nach Abtrennung eines Teiles die andern in ihren<lb/>
Eigenschaften und Funktionen im wesentlichen unverletzt zu<lb/>
lassen. Innerhalb des persönlichen Seelenlebens ist trotz der<lb/>
vorhin erwähnten Diskrepanz seiner Inhalte doch die funk-<lb/>
tionelle Beziehung höchst eng; jede entlegenste oder noch so<lb/>
lange vergangene Vorstellung kann so sehr auf jede andere<lb/>
wirken, da&#x017F;s hierfür freilich die Vorstellung einer Einheit von<lb/>
dieser Seite her die grö&#x017F;ste Berechtigung besitzt. Natürlich<lb/>
sind die Unterschiede solcher Berechtigungen nur gradweise;<lb/>
als regulatives Weltprinzip müssen wir annehmen, da&#x017F;s Alles<lb/>
mit Allem in irgend einer Wechselwirkung steht, da&#x017F;s zwischen<lb/>
jedem Punkte der Welt und jedem andern Kräfte und hin-<lb/>
und hergehende Beziehungen bestehen; es kann uns deshalb<lb/>
logisch nicht verwehrt werden, beliebige Einheiten herauszu-<lb/>
greifen und sie zu dem Begriff <hi rendition="#g">eines</hi> Wesens zusammenzu-<lb/>
schlie&#x017F;sen, dessen Natur und Bewegungen wir nach histori-<lb/>
schen wie gesetzlichen Gesichtspunkten festzustellen hätten.<lb/>
Das Entscheidende hierbei ist nur, welche Zusammenfassung<lb/>
wissenschaftlich zweckmä&#x017F;sig ist, wo die Wechselwirkung<lb/>
zwischen Wesen kräftig genug ist, um durch ihre isolierte<lb/>
Behandlung gegenüber den Wechselwirkungen jedes derselben<lb/>
mit allen andern Wesen eine hervorragende Aufklärung zu<lb/>
versprechen, wobei es hauptsächlich darauf ankommt, ob die<lb/>
behandelte Kombination eine häufige ist, so da&#x017F;s die Erkenntnis<lb/>
derselben typisch sein kann und, wenn auch nicht Gesetz-<lb/>&#x017F;sigkeit, die für die Erkenntnis den Wirkungen der ein-<lb/>
fachen Teile vorbehalten ist, so doch Regelmä&#x017F;sigkeiten nach-<lb/>
weist. Die Auflösung der Gesellschaftsseele in die Summe<lb/>
der Wechselwirkungen ihrer Teilhaber liegt in der Richtung<lb/>
des modernen Geisteslebens überhaupt: das Feste, sich selbst<lb/>
Gleiche, Substantielle in Funktion, Kraft, Bewegung aufzu-<lb/>
lösen und in allem Sein den historischen Proze&#x017F;s seines Wer-<lb/>
dens zu erkennen. Da&#x017F;s nun eine Wechselwirkung der Teile<lb/>
unter dem statt hat, was wir eine Gesellschaft nennen, wird<lb/>
niemand leugnen. Ein in sich völlig geschlossenes Wesen,<lb/>
eine absolute Einheit ist die Gesellschaft nicht, so wenig wie<lb/>
das menschliche Individuum es ist. Sie ist gegenüber den<lb/>
realen Wechselwirkungen der Teile nur sekundär, nur Re-<lb/>
sultat, und zwar sowohl sachlich wie für die Betrachtung.<lb/>
Wenn wir hier von der morphologischen Erscheinung absehen,<lb/>
in der freilich der Einzelne ganz und gar das Produkt seiner<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[13/0027] X 1. heitlichung abgiebt: die Wechselwirkung der Teile. Wir be- zeichnen jeden Gegenstand in demselben Maſse als einheitlich, in dem seine Teile in gegenseitigen dynamischen Beziehungen stehen. Darum gewährt ein Lebewesen so besonders die Er- scheinung von Einheit, weil wir in ihm die energischste Wir- kung jedes Teils auf jeden beobachten, während der Zu- sammenhang eines unorganischen Naturgebildes schwach genug ist, um nach Abtrennung eines Teiles die andern in ihren Eigenschaften und Funktionen im wesentlichen unverletzt zu lassen. Innerhalb des persönlichen Seelenlebens ist trotz der vorhin erwähnten Diskrepanz seiner Inhalte doch die funk- tionelle Beziehung höchst eng; jede entlegenste oder noch so lange vergangene Vorstellung kann so sehr auf jede andere wirken, daſs hierfür freilich die Vorstellung einer Einheit von dieser Seite her die gröſste Berechtigung besitzt. Natürlich sind die Unterschiede solcher Berechtigungen nur gradweise; als regulatives Weltprinzip müssen wir annehmen, daſs Alles mit Allem in irgend einer Wechselwirkung steht, daſs zwischen jedem Punkte der Welt und jedem andern Kräfte und hin- und hergehende Beziehungen bestehen; es kann uns deshalb logisch nicht verwehrt werden, beliebige Einheiten herauszu- greifen und sie zu dem Begriff eines Wesens zusammenzu- schlieſsen, dessen Natur und Bewegungen wir nach histori- schen wie gesetzlichen Gesichtspunkten festzustellen hätten. Das Entscheidende hierbei ist nur, welche Zusammenfassung wissenschaftlich zweckmäſsig ist, wo die Wechselwirkung zwischen Wesen kräftig genug ist, um durch ihre isolierte Behandlung gegenüber den Wechselwirkungen jedes derselben mit allen andern Wesen eine hervorragende Aufklärung zu versprechen, wobei es hauptsächlich darauf ankommt, ob die behandelte Kombination eine häufige ist, so daſs die Erkenntnis derselben typisch sein kann und, wenn auch nicht Gesetz- mäſsigkeit, die für die Erkenntnis den Wirkungen der ein- fachen Teile vorbehalten ist, so doch Regelmäſsigkeiten nach- weist. Die Auflösung der Gesellschaftsseele in die Summe der Wechselwirkungen ihrer Teilhaber liegt in der Richtung des modernen Geisteslebens überhaupt: das Feste, sich selbst Gleiche, Substantielle in Funktion, Kraft, Bewegung aufzu- lösen und in allem Sein den historischen Prozeſs seines Wer- dens zu erkennen. Daſs nun eine Wechselwirkung der Teile unter dem statt hat, was wir eine Gesellschaft nennen, wird niemand leugnen. Ein in sich völlig geschlossenes Wesen, eine absolute Einheit ist die Gesellschaft nicht, so wenig wie das menschliche Individuum es ist. Sie ist gegenüber den realen Wechselwirkungen der Teile nur sekundär, nur Re- sultat, und zwar sowohl sachlich wie für die Betrachtung. Wenn wir hier von der morphologischen Erscheinung absehen, in der freilich der Einzelne ganz und gar das Produkt seiner

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/27
Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/27>, abgerufen am 23.11.2024.