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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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Kraft von dem sonstigen Gesamtzustand des Wesens abhängt,
an dem sie sich äussert, und so gewissermassen als die Re-
sultante zwischen der hervorgehobenen Kraft und einer An-
zahl anderer, im gleichen Augenblick auf den gleichen Punkt
wirkender anzusehen ist; sondern speciell die menschliche
Seele ist ein so ausserordentlich kompliziertes Gebilde, dass,
wenn man einen Vorgang oder Zustand in ihr unter einen
einheitlichen Begriff bringt, dies immer nur eine Benennung
a potiori ist; es spielen stets so viele Prozesse zugleich in
unserer Seele, so viele Kräfte sind zugleich in ihr wirksam,
dass die Feststellung einer Kausalverbindung zwischen ein-
fachen psychologischen Begriffen, wie in den bisherigen Bei-
spielen, immer ganz einseitig ist; nicht der eine einheitliche
Affekt geht in den andern einheitlichen über, sondern Gesamt-
zustände thun dies, in denen jene etwa die Hauptsachen oder
besonders hell beleuchtete Punkte sind, deren entscheidende
Nüancierung aber von unzähligen gleichzeitigen Seeleninhalten
herrührt. Wie ein Ton seine Klangfarbe von den zugleich
erklingenden Obertönen erhält, wir also nicht den reinen Ton,
sondern eine grosse Anzahl von Tönen hören, von denen einer
nur der hervortretendste, keineswegs aber über den ästheti-
schen Eindruck allein entscheidende ist: so hat jede Vor-
stellung und jedes Gefühl eine grosse Zahl psychischer Be-
gleiter, die es individualisieren und über seine weiteren
Wirkungen entscheiden. Von der Fülle des gleichzeitigen
psychischen Inhaltes treten immer nur wenige führende
Vorstellungen in das klare Bewusstsein, und die Kausalverbin-
dung, die man einmal zwischen ihnen beobachtet hat, ist das
nächste Mal schon nicht mehr gültig, weil inzwischen der
Gesamtzustand der Seele sich geändert hat und anderweitige
Vorgänge etwa das erste Mal in der Richtung jener Verbin-
dung, das zweite Mal aber ihr entgegenwirkten. Dies ist der
Grund, weshalb die Psychologie keine Gesetze im naturwissen-
schaftlichen Sinne erreichen kann: weil wegen der Kom-
pliziertheit ihrer Erscheinungen keine isolierte einfache Kraft-
wirkung in der Seele zu beobachten ist, sondern jede von so
vielen Nebenerscheinungen begleitet wird, dass nie mit voll-
kommener Sicherheit festzustellen ist, was denn nun wirklich
die Ursache einer gegebenen Folge oder die Folge einer ge-
gebenen Ursache ist.

Trotzdem wäre es falsch, den metaphysischen und psycho-
logischen Aufstellungen deshalb nun den wissenschaftlichen
Wert absprechen zu wollen. Wenn sie auch nicht exakte
Erkenntnis sind, so sind sie doch Vorläufer derselben. Sie
orientieren doch einigermassen über die Erscheinungen und
schaffen die Begriffe, durch deren allmähliche Verfeinerung,
Wiederauflösung und Zusammenfügung nach anderen Gesichts-
punkten eine immer grössere Annäherung an die Wahrheit

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Kraft von dem sonstigen Gesamtzustand des Wesens abhängt,
an dem sie sich äuſsert, und so gewissermaſsen als die Re-
sultante zwischen der hervorgehobenen Kraft und einer An-
zahl anderer, im gleichen Augenblick auf den gleichen Punkt
wirkender anzusehen ist; sondern speciell die menschliche
Seele ist ein so auſserordentlich kompliziertes Gebilde, daſs,
wenn man einen Vorgang oder Zustand in ihr unter einen
einheitlichen Begriff bringt, dies immer nur eine Benennung
a potiori ist; es spielen stets so viele Prozesse zugleich in
unserer Seele, so viele Kräfte sind zugleich in ihr wirksam,
daſs die Feststellung einer Kausalverbindung zwischen ein-
fachen psychologischen Begriffen, wie in den bisherigen Bei-
spielen, immer ganz einseitig ist; nicht der eine einheitliche
Affekt geht in den andern einheitlichen über, sondern Gesamt-
zustände thun dies, in denen jene etwa die Hauptsachen oder
besonders hell beleuchtete Punkte sind, deren entscheidende
Nüancierung aber von unzähligen gleichzeitigen Seeleninhalten
herrührt. Wie ein Ton seine Klangfarbe von den zugleich
erklingenden Obertönen erhält, wir also nicht den reinen Ton,
sondern eine groſse Anzahl von Tönen hören, von denen einer
nur der hervortretendste, keineswegs aber über den ästheti-
schen Eindruck allein entscheidende ist: so hat jede Vor-
stellung und jedes Gefühl eine groſse Zahl psychischer Be-
gleiter, die es individualisieren und über seine weiteren
Wirkungen entscheiden. Von der Fülle des gleichzeitigen
psychischen Inhaltes treten immer nur wenige führende
Vorstellungen in das klare Bewuſstsein, und die Kausalverbin-
dung, die man einmal zwischen ihnen beobachtet hat, ist das
nächste Mal schon nicht mehr gültig, weil inzwischen der
Gesamtzustand der Seele sich geändert hat und anderweitige
Vorgänge etwa das erste Mal in der Richtung jener Verbin-
dung, das zweite Mal aber ihr entgegenwirkten. Dies ist der
Grund, weshalb die Psychologie keine Gesetze im naturwissen-
schaftlichen Sinne erreichen kann: weil wegen der Kom-
pliziertheit ihrer Erscheinungen keine isolierte einfache Kraft-
wirkung in der Seele zu beobachten ist, sondern jede von so
vielen Nebenerscheinungen begleitet wird, daſs nie mit voll-
kommener Sicherheit festzustellen ist, was denn nun wirklich
die Ursache einer gegebenen Folge oder die Folge einer ge-
gebenen Ursache ist.

Trotzdem wäre es falsch, den metaphysischen und psycho-
logischen Aufstellungen deshalb nun den wissenschaftlichen
Wert absprechen zu wollen. Wenn sie auch nicht exakte
Erkenntnis sind, so sind sie doch Vorläufer derselben. Sie
orientieren doch einigermaſsen über die Erscheinungen und
schaffen die Begriffe, durch deren allmähliche Verfeinerung,
Wiederauflösung und Zusammenfügung nach anderen Gesichts-
punkten eine immer gröſsere Annäherung an die Wahrheit

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[7/0021] X 1. Kraft von dem sonstigen Gesamtzustand des Wesens abhängt, an dem sie sich äuſsert, und so gewissermaſsen als die Re- sultante zwischen der hervorgehobenen Kraft und einer An- zahl anderer, im gleichen Augenblick auf den gleichen Punkt wirkender anzusehen ist; sondern speciell die menschliche Seele ist ein so auſserordentlich kompliziertes Gebilde, daſs, wenn man einen Vorgang oder Zustand in ihr unter einen einheitlichen Begriff bringt, dies immer nur eine Benennung a potiori ist; es spielen stets so viele Prozesse zugleich in unserer Seele, so viele Kräfte sind zugleich in ihr wirksam, daſs die Feststellung einer Kausalverbindung zwischen ein- fachen psychologischen Begriffen, wie in den bisherigen Bei- spielen, immer ganz einseitig ist; nicht der eine einheitliche Affekt geht in den andern einheitlichen über, sondern Gesamt- zustände thun dies, in denen jene etwa die Hauptsachen oder besonders hell beleuchtete Punkte sind, deren entscheidende Nüancierung aber von unzähligen gleichzeitigen Seeleninhalten herrührt. Wie ein Ton seine Klangfarbe von den zugleich erklingenden Obertönen erhält, wir also nicht den reinen Ton, sondern eine groſse Anzahl von Tönen hören, von denen einer nur der hervortretendste, keineswegs aber über den ästheti- schen Eindruck allein entscheidende ist: so hat jede Vor- stellung und jedes Gefühl eine groſse Zahl psychischer Be- gleiter, die es individualisieren und über seine weiteren Wirkungen entscheiden. Von der Fülle des gleichzeitigen psychischen Inhaltes treten immer nur wenige führende Vorstellungen in das klare Bewuſstsein, und die Kausalverbin- dung, die man einmal zwischen ihnen beobachtet hat, ist das nächste Mal schon nicht mehr gültig, weil inzwischen der Gesamtzustand der Seele sich geändert hat und anderweitige Vorgänge etwa das erste Mal in der Richtung jener Verbin- dung, das zweite Mal aber ihr entgegenwirkten. Dies ist der Grund, weshalb die Psychologie keine Gesetze im naturwissen- schaftlichen Sinne erreichen kann: weil wegen der Kom- pliziertheit ihrer Erscheinungen keine isolierte einfache Kraft- wirkung in der Seele zu beobachten ist, sondern jede von so vielen Nebenerscheinungen begleitet wird, daſs nie mit voll- kommener Sicherheit festzustellen ist, was denn nun wirklich die Ursache einer gegebenen Folge oder die Folge einer ge- gebenen Ursache ist. Trotzdem wäre es falsch, den metaphysischen und psycho- logischen Aufstellungen deshalb nun den wissenschaftlichen Wert absprechen zu wollen. Wenn sie auch nicht exakte Erkenntnis sind, so sind sie doch Vorläufer derselben. Sie orientieren doch einigermaſsen über die Erscheinungen und schaffen die Begriffe, durch deren allmähliche Verfeinerung, Wiederauflösung und Zusammenfügung nach anderen Gesichts- punkten eine immer gröſsere Annäherung an die Wahrheit

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/21>, abgerufen am 23.11.2024.