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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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handen sein, damit es zu der neuen Wissenschaft komme,
während andere mehr von dem Material als von seiner For-
mung ausgehen, welche letztere bei ihnen unmittelbarer durch
das erstere gegeben wird. Es braucht kaum erwähnt zu
werden, dass es sich dabei nur um graduelle Unterschiede
handelt, dass im letzten Grunde der Inhalt keiner Wissen-
schaft aus blossen objektiven Thatsachen besteht, sondern
immer eine Deutung und Formung derselben nach Kategorieen
und Normen enthält, die für die betreffende Wissenschaft
a priori sind, d. h. von dem auffassenden Geiste an die an
und für sich isolierten Thatsachen herangebracht werden.
Bei der Socialwissenschaft findet nur ein quantitatives Ueber-
wiegen des kombinatorischen Elementes gegenüber anderen
Wissenschaften statt, woher es denn bei ihr besonders gerecht-
fertigt erscheint, sich die Gesichtspunkte, nach denen ihre
Kombinationen erfolgen, zu theoretischem Bewusstsein zu
bringen.

Damit ist indes natürlich nicht gemeint, dass es unbe-
strittener und festumgrenzter Definitionen für die Grund-
begriffe der Sociologie bedürfe, dass man z. B. von vorn-
herein die Fragen beantworten könne: was ist eine Gesell-
schaft? was ist ein Individuum? wie sind gegenseitige
psychische Wirkungen der Individuen auf einander möglich?
u. s. w.; vielmehr wird man sich auch hier mit einer nur un-
gefähren Umgrenzung des Gebietes begnügen und die völlige
Einsicht in das Wesen der Objekte von, aber nicht vor der
Vollendung der Wissenschaft erwarten müssen, wenn man
nicht in den Irrtum der älteren Psychologie verfallen will:
man müsse zuerst das Wesen der Seele definiert haben, ehe
man die seelischen Erscheinungen wissenschaftlich erkennen
könne. Noch immer gilt die aristotelische Wahrheit, dass,
was der Sache nach das Erste ist, für unsere Erkenntnis
das Späteste ist. Im logisch systematischen Aufbau der
Wissenschaft bilden freilich die Definitionen der Grundbegriffe
das Erste; allein erst eine fertige Wissenschaft kann sich so
vom Einfachsten und Klarsten aufbauen. Wenn eine Wissen-
schaft erst zustande gebracht werden soll, muss man von den
unmittelbar gegebenen Problemen ausgehen, die immer höchst
kompliziert sind und sich erst allmählich in ihre Elemente
auflösen lassen. Das einfachste Resultat des Denkens ist eben
nicht das Resultat des einfachsten Denkens.

Vielleicht ist das unmittelbar gegebene Problem auch
gerade bei der Socialwissenschaft eines der kompliziertesten,
die überhaupt denkbar sind. Ist der Mensch das höchste
Gebilde, zu dem die natürliche Entwickelung sich aufgipfelt,
so ist er dies doch nur dadurch, dass ein Maximum ver-
schiedenartiger Kräfte sich in ihm gehäuft hat, die durch
gegenseitige Modifizierung, Ausgleichung und Auslese eben

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handen sein, damit es zu der neuen Wissenschaft komme,
während andere mehr von dem Material als von seiner For-
mung ausgehen, welche letztere bei ihnen unmittelbarer durch
das erstere gegeben wird. Es braucht kaum erwähnt zu
werden, daſs es sich dabei nur um graduelle Unterschiede
handelt, daſs im letzten Grunde der Inhalt keiner Wissen-
schaft aus bloſsen objektiven Thatsachen besteht, sondern
immer eine Deutung und Formung derselben nach Kategorieen
und Normen enthält, die für die betreffende Wissenschaft
a priori sind, d. h. von dem auffassenden Geiste an die an
und für sich isolierten Thatsachen herangebracht werden.
Bei der Socialwissenschaft findet nur ein quantitatives Ueber-
wiegen des kombinatorischen Elementes gegenüber anderen
Wissenschaften statt, woher es denn bei ihr besonders gerecht-
fertigt erscheint, sich die Gesichtspunkte, nach denen ihre
Kombinationen erfolgen, zu theoretischem Bewuſstsein zu
bringen.

Damit ist indes natürlich nicht gemeint, daſs es unbe-
strittener und festumgrenzter Definitionen für die Grund-
begriffe der Sociologie bedürfe, daſs man z. B. von vorn-
herein die Fragen beantworten könne: was ist eine Gesell-
schaft? was ist ein Individuum? wie sind gegenseitige
psychische Wirkungen der Individuen auf einander möglich?
u. s. w.; vielmehr wird man sich auch hier mit einer nur un-
gefähren Umgrenzung des Gebietes begnügen und die völlige
Einsicht in das Wesen der Objekte von, aber nicht vor der
Vollendung der Wissenschaft erwarten müssen, wenn man
nicht in den Irrtum der älteren Psychologie verfallen will:
man müsse zuerst das Wesen der Seele definiert haben, ehe
man die seelischen Erscheinungen wissenschaftlich erkennen
könne. Noch immer gilt die aristotelische Wahrheit, daſs,
was der Sache nach das Erste ist, für unsere Erkenntnis
das Späteste ist. Im logisch systematischen Aufbau der
Wissenschaft bilden freilich die Definitionen der Grundbegriffe
das Erste; allein erst eine fertige Wissenschaft kann sich so
vom Einfachsten und Klarsten aufbauen. Wenn eine Wissen-
schaft erst zustande gebracht werden soll, muss man von den
unmittelbar gegebenen Problemen ausgehen, die immer höchst
kompliziert sind und sich erst allmählich in ihre Elemente
auflösen lassen. Das einfachste Resultat des Denkens ist eben
nicht das Resultat des einfachsten Denkens.

Vielleicht ist das unmittelbar gegebene Problem auch
gerade bei der Socialwissenschaft eines der kompliziertesten,
die überhaupt denkbar sind. Ist der Mensch das höchste
Gebilde, zu dem die natürliche Entwickelung sich aufgipfelt,
so ist er dies doch nur dadurch, daſs ein Maximum ver-
schiedenartiger Kräfte sich in ihm gehäuft hat, die durch
gegenseitige Modifizierung, Ausgleichung und Auslese eben

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[3/0017] X 1. handen sein, damit es zu der neuen Wissenschaft komme, während andere mehr von dem Material als von seiner For- mung ausgehen, welche letztere bei ihnen unmittelbarer durch das erstere gegeben wird. Es braucht kaum erwähnt zu werden, daſs es sich dabei nur um graduelle Unterschiede handelt, daſs im letzten Grunde der Inhalt keiner Wissen- schaft aus bloſsen objektiven Thatsachen besteht, sondern immer eine Deutung und Formung derselben nach Kategorieen und Normen enthält, die für die betreffende Wissenschaft a priori sind, d. h. von dem auffassenden Geiste an die an und für sich isolierten Thatsachen herangebracht werden. Bei der Socialwissenschaft findet nur ein quantitatives Ueber- wiegen des kombinatorischen Elementes gegenüber anderen Wissenschaften statt, woher es denn bei ihr besonders gerecht- fertigt erscheint, sich die Gesichtspunkte, nach denen ihre Kombinationen erfolgen, zu theoretischem Bewuſstsein zu bringen. Damit ist indes natürlich nicht gemeint, daſs es unbe- strittener und festumgrenzter Definitionen für die Grund- begriffe der Sociologie bedürfe, daſs man z. B. von vorn- herein die Fragen beantworten könne: was ist eine Gesell- schaft? was ist ein Individuum? wie sind gegenseitige psychische Wirkungen der Individuen auf einander möglich? u. s. w.; vielmehr wird man sich auch hier mit einer nur un- gefähren Umgrenzung des Gebietes begnügen und die völlige Einsicht in das Wesen der Objekte von, aber nicht vor der Vollendung der Wissenschaft erwarten müssen, wenn man nicht in den Irrtum der älteren Psychologie verfallen will: man müsse zuerst das Wesen der Seele definiert haben, ehe man die seelischen Erscheinungen wissenschaftlich erkennen könne. Noch immer gilt die aristotelische Wahrheit, daſs, was der Sache nach das Erste ist, für unsere Erkenntnis das Späteste ist. Im logisch systematischen Aufbau der Wissenschaft bilden freilich die Definitionen der Grundbegriffe das Erste; allein erst eine fertige Wissenschaft kann sich so vom Einfachsten und Klarsten aufbauen. Wenn eine Wissen- schaft erst zustande gebracht werden soll, muss man von den unmittelbar gegebenen Problemen ausgehen, die immer höchst kompliziert sind und sich erst allmählich in ihre Elemente auflösen lassen. Das einfachste Resultat des Denkens ist eben nicht das Resultat des einfachsten Denkens. Vielleicht ist das unmittelbar gegebene Problem auch gerade bei der Socialwissenschaft eines der kompliziertesten, die überhaupt denkbar sind. Ist der Mensch das höchste Gebilde, zu dem die natürliche Entwickelung sich aufgipfelt, so ist er dies doch nur dadurch, daſs ein Maximum ver- schiedenartiger Kräfte sich in ihm gehäuft hat, die durch gegenseitige Modifizierung, Ausgleichung und Auslese eben 1*

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/17>, abgerufen am 29.03.2024.