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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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teressen auf diesen einen Ton abgestimmt sei, weil bei der
Einseitigkeit des Einzelnen die grösste Möglichkeit und Not-
wendigkeit dafür vorhanden ist, dass sie sich inhaltlich von
der jedes andern Einzelnen unterscheide. So bannt der Zwang
der öffentlich wirtschaftlichen Verhältnisse den Einzelnen sein
Leben lang in die einförmigste Arbeit, in die umschränkteste
Specialität, weil er auf diese Weise die Fertigkeit in ihr er-
langt, die die geforderte Güte und Billigkeit des Produktes
ermöglicht; so verlangt das öffentliche Interesse oft Einseitig-
keit des politischen Standpunktes, die dem Einzelnen oft durch-
aus nicht sympathisch ist, wofür die Solonische Bestimmung
über Parteilosigkeit heranzuziehen ist; so steigert die Allge-
meinheit die Ansprüche an diejenigen, denen sie irgendwelche
Stellungen gewährt, derart, dass ihnen oft nur durch äusserste
Konzentration auf das Fach unter Ausschluss aller andern
Bildungsinteressen genügt werden kann. Dem gegenüber be-
deutet die Differenzierung des Individuums gerade das Auf-
heben der Einseitigkeit; sie löst das Ineinander der Willens-
und Denkfähigkeiten auf und bildet jede derselben zu einer
für sich bestehenden Eigenschaft aus. Gerade indem der
Einzelne das Schicksal der Gattung in sich wiederholt, setzt
er sich in Gegensatz zu diesem selbst; das Glied, das sich
nach der Norm des Ganzen entwickeln will, negiert damit in
diesem Falle seine Rolle als Teil desselben. Die Mannich-
faltigkeit scharf gesonderter Inhalte, die das Ganze verlangt,
ist nur herstellbar, wenn der Einzelne auf eben dieselbe
verzichtet: man kann kein Haus aus Häusern bauen. Dass
die Entgegengesetztheit dieser beiden Tendenzen keine abso-
lute ist, sondern nach verschiedenen Seiten hin ihre Grenze
findet, ist deshalb selbstverständlich, weil der Trieb der Diffe-
renzierung selbst nicht ins Unendliche geht, sondern für jeden
gegebenen Einzel- oder Kollektivorganismus an dem Geltungs-
bereich des entgegengesetzten Triebes halt machen muss. So
wird es, wie wir schon mehrfach hervorgehoben, einen
Grad von Individualisierung der Gruppenmitglieder geben,
bei dem entweder die Leistungsfähigkeit dieser auch für ihren
Specialberuf auf hört, oder bei dem die Gruppe auseinander-
fällt, weil jene keine Beziehungen mehr zu einander finden.
Und ebenso wird auch das Individuum für sich selbst darauf
verzichten, die Mannichfaltigkeit seiner Triebe bis in die
äusserste Möglichkeit hin auszuleben, weil dies die unerträg-
lichste Zersplitterung bedeuten würde. Innerhalb gewisser
Grenzen wird also das Interesse des Einzelnen an seiner
Differenzierung im Sinne eines Ganzen zu keinem andern
Zustand führen, als das Interesse der Gesamtheit an seiner
Differenzierung im Sinne eines Gliedes. Wo aber diese Grenze
liegt, wo die Wünsche des Einzelnen nach innerer Mannich-

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teressen auf diesen einen Ton abgestimmt sei, weil bei der
Einseitigkeit des Einzelnen die gröſste Möglichkeit und Not-
wendigkeit dafür vorhanden ist, daſs sie sich inhaltlich von
der jedes andern Einzelnen unterscheide. So bannt der Zwang
der öffentlich wirtschaftlichen Verhältnisse den Einzelnen sein
Leben lang in die einförmigste Arbeit, in die umschränkteste
Specialität, weil er auf diese Weise die Fertigkeit in ihr er-
langt, die die geforderte Güte und Billigkeit des Produktes
ermöglicht; so verlangt das öffentliche Interesse oft Einseitig-
keit des politischen Standpunktes, die dem Einzelnen oft durch-
aus nicht sympathisch ist, wofür die Solonische Bestimmung
über Parteilosigkeit heranzuziehen ist; so steigert die Allge-
meinheit die Ansprüche an diejenigen, denen sie irgendwelche
Stellungen gewährt, derart, daſs ihnen oft nur durch äuſserste
Konzentration auf das Fach unter Ausschluſs aller andern
Bildungsinteressen genügt werden kann. Dem gegenüber be-
deutet die Differenzierung des Individuums gerade das Auf-
heben der Einseitigkeit; sie löst das Ineinander der Willens-
und Denkfähigkeiten auf und bildet jede derselben zu einer
für sich bestehenden Eigenschaft aus. Gerade indem der
Einzelne das Schicksal der Gattung in sich wiederholt, setzt
er sich in Gegensatz zu diesem selbst; das Glied, das sich
nach der Norm des Ganzen entwickeln will, negiert damit in
diesem Falle seine Rolle als Teil desselben. Die Mannich-
faltigkeit scharf gesonderter Inhalte, die das Ganze verlangt,
ist nur herstellbar, wenn der Einzelne auf eben dieselbe
verzichtet: man kann kein Haus aus Häusern bauen. Daſs
die Entgegengesetztheit dieser beiden Tendenzen keine abso-
lute ist, sondern nach verschiedenen Seiten hin ihre Grenze
findet, ist deshalb selbstverständlich, weil der Trieb der Diffe-
renzierung selbst nicht ins Unendliche geht, sondern für jeden
gegebenen Einzel- oder Kollektivorganismus an dem Geltungs-
bereich des entgegengesetzten Triebes halt machen muſs. So
wird es, wie wir schon mehrfach hervorgehoben, einen
Grad von Individualisierung der Gruppenmitglieder geben,
bei dem entweder die Leistungsfähigkeit dieser auch für ihren
Specialberuf auf hört, oder bei dem die Gruppe auseinander-
fällt, weil jene keine Beziehungen mehr zu einander finden.
Und ebenso wird auch das Individuum für sich selbst darauf
verzichten, die Mannichfaltigkeit seiner Triebe bis in die
äuſserste Möglichkeit hin auszuleben, weil dies die unerträg-
lichste Zersplitterung bedeuten würde. Innerhalb gewisser
Grenzen wird also das Interesse des Einzelnen an seiner
Differenzierung im Sinne eines Ganzen zu keinem andern
Zustand führen, als das Interesse der Gesamtheit an seiner
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[138/0152] X 1. teressen auf diesen einen Ton abgestimmt sei, weil bei der Einseitigkeit des Einzelnen die gröſste Möglichkeit und Not- wendigkeit dafür vorhanden ist, daſs sie sich inhaltlich von der jedes andern Einzelnen unterscheide. So bannt der Zwang der öffentlich wirtschaftlichen Verhältnisse den Einzelnen sein Leben lang in die einförmigste Arbeit, in die umschränkteste Specialität, weil er auf diese Weise die Fertigkeit in ihr er- langt, die die geforderte Güte und Billigkeit des Produktes ermöglicht; so verlangt das öffentliche Interesse oft Einseitig- keit des politischen Standpunktes, die dem Einzelnen oft durch- aus nicht sympathisch ist, wofür die Solonische Bestimmung über Parteilosigkeit heranzuziehen ist; so steigert die Allge- meinheit die Ansprüche an diejenigen, denen sie irgendwelche Stellungen gewährt, derart, daſs ihnen oft nur durch äuſserste Konzentration auf das Fach unter Ausschluſs aller andern Bildungsinteressen genügt werden kann. Dem gegenüber be- deutet die Differenzierung des Individuums gerade das Auf- heben der Einseitigkeit; sie löst das Ineinander der Willens- und Denkfähigkeiten auf und bildet jede derselben zu einer für sich bestehenden Eigenschaft aus. Gerade indem der Einzelne das Schicksal der Gattung in sich wiederholt, setzt er sich in Gegensatz zu diesem selbst; das Glied, das sich nach der Norm des Ganzen entwickeln will, negiert damit in diesem Falle seine Rolle als Teil desselben. Die Mannich- faltigkeit scharf gesonderter Inhalte, die das Ganze verlangt, ist nur herstellbar, wenn der Einzelne auf eben dieselbe verzichtet: man kann kein Haus aus Häusern bauen. Daſs die Entgegengesetztheit dieser beiden Tendenzen keine abso- lute ist, sondern nach verschiedenen Seiten hin ihre Grenze findet, ist deshalb selbstverständlich, weil der Trieb der Diffe- renzierung selbst nicht ins Unendliche geht, sondern für jeden gegebenen Einzel- oder Kollektivorganismus an dem Geltungs- bereich des entgegengesetzten Triebes halt machen muſs. So wird es, wie wir schon mehrfach hervorgehoben, einen Grad von Individualisierung der Gruppenmitglieder geben, bei dem entweder die Leistungsfähigkeit dieser auch für ihren Specialberuf auf hört, oder bei dem die Gruppe auseinander- fällt, weil jene keine Beziehungen mehr zu einander finden. Und ebenso wird auch das Individuum für sich selbst darauf verzichten, die Mannichfaltigkeit seiner Triebe bis in die äuſserste Möglichkeit hin auszuleben, weil dies die unerträg- lichste Zersplitterung bedeuten würde. Innerhalb gewisser Grenzen wird also das Interesse des Einzelnen an seiner Differenzierung im Sinne eines Ganzen zu keinem andern Zustand führen, als das Interesse der Gesamtheit an seiner Differenzierung im Sinne eines Gliedes. Wo aber diese Grenze liegt, wo die Wünsche des Einzelnen nach innerer Mannich-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/152>, abgerufen am 27.04.2024.