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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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Ihre Bestimmtheit wird nun eine um so grössere sein,
wenn die bestimmenden Kreise mehr nebeneinander liegende,
als konzentrische sind; d. h. allmählich sich verengende Kreise,
wie Nation, sociale Stellung, Beruf, besondere Kategorie inner-
halb dieses, werden der an ihnen teilhabenden Person keine
so individuelle Stelle anweisen, weil der engste derselben ganz
von selbst die Teilhaberschaft an den weiteren bedeutet, als
wenn jemand ausser seiner Berufsstellung etwa noch einem
wissenschaftlichen Vereine angehört, Aufsichtsrat einer Aktien-
gesellschaft ist und ein städtisches Ehrenamt bekleidet; je
weniger das Teilhaben an dem einen Kreise von selbst An-
weisung giebt auf das Teilhaben an dem andern, desto be-
stimmter wird die Person dadurch bezeichnet, dass sie in
einem Schnittpunkt beider steht. Ich will hier nur andeuten,
wie die Möglichkeit der Individualisierung auch dadurch ins
Unermessliche wächst, dass dieselbe Person in den verschie-
denen Kreisen, denen sie gleichzeitig angehört, ganz ver-
schiedene relative Stellungen einnehmen kann. Denn jeder
neue Zusammenschluss unter gleichem Gesichtspunkt erzeugt
sofort wieder in sich eine gewisse Ungleichheit, eine Differen-
zierung zwischen Führenden und Geführten; wenn ein ein-
heitliches Interesse, wie es etwa das erwähnte humanistische
war, für hohe und niedere Personen ein gemeinsames Band
war, das ihre sonstige Verschiedenheit paralysierte, so ent-
sprangen nun innerhalb dieser Gemeinsamkeit und nach den
ihr eigenen Kategorieen neue Unterschiede zwischen Hoch und
Niedrig, welche ganz ausser Korrespondenz mit dem Hoch
und Niedrig innerhalb ihrer sonstigen Kreise stehen. Indem
die Höhen der Stellungen, welche eine und dieselbe Person
in verschiedenen Gruppen einnimmt, von einander völlig un-
abhängig sind, können so seltsame Kombinationen entstehen,
wie die, dass in Ländern mit allgemeiner Wehrpflicht der
geistig und social höchststehende Mann sich einem Unter-
offizier unterzuordnen hat und dass die Pariser Bettlergilde
einen gewählten "König" besitzt, der ursprünglich nur ein
Bettler wie alle, und, so viel ich weiss, auch weiter ein solcher
bleibend, mit wahrhaft fürstlichen Ehren und Bevorzugungen
ausgestattet ist -- vielleicht die merkwürdigste und indivi-
dualisierendste Vereinigung von Niedrigkeit in einer und
Höhe in anderer socialen Stellung. Auch sind hier diejenigen
Komplikationen in Betracht zu ziehen, die durch die Kon-
kurrenz innerhalb einer Gruppe entstehen; der Kaufmann ist
einerseits mit anderen Kaufleuten zu einem Kreise verbunden,
der eine grosse Anzahl gemeinsamer Interessen hat: wirt-
schaftspolitische Gesetzgebung, sociales Ansehen des Kauf-
mannsstandes, Repräsentation desselben, Zusammenschluss ge-
genüber dem Publikum zur Aufrechterhaltung bestimmter
Preise und vieles andere -- geht die gesamte Handelswelt als

X 1.

Ihre Bestimmtheit wird nun eine um so gröſsere sein,
wenn die bestimmenden Kreise mehr nebeneinander liegende,
als konzentrische sind; d. h. allmählich sich verengende Kreise,
wie Nation, sociale Stellung, Beruf, besondere Kategorie inner-
halb dieses, werden der an ihnen teilhabenden Person keine
so individuelle Stelle anweisen, weil der engste derselben ganz
von selbst die Teilhaberschaft an den weiteren bedeutet, als
wenn jemand auſser seiner Berufsstellung etwa noch einem
wissenschaftlichen Vereine angehört, Aufsichtsrat einer Aktien-
gesellschaft ist und ein städtisches Ehrenamt bekleidet; je
weniger das Teilhaben an dem einen Kreise von selbst An-
weisung giebt auf das Teilhaben an dem andern, desto be-
stimmter wird die Person dadurch bezeichnet, daſs sie in
einem Schnittpunkt beider steht. Ich will hier nur andeuten,
wie die Möglichkeit der Individualisierung auch dadurch ins
Unermeſsliche wächst, daſs dieselbe Person in den verschie-
denen Kreisen, denen sie gleichzeitig angehört, ganz ver-
schiedene relative Stellungen einnehmen kann. Denn jeder
neue Zusammenschluſs unter gleichem Gesichtspunkt erzeugt
sofort wieder in sich eine gewisse Ungleichheit, eine Differen-
zierung zwischen Führenden und Geführten; wenn ein ein-
heitliches Interesse, wie es etwa das erwähnte humanistische
war, für hohe und niedere Personen ein gemeinsames Band
war, das ihre sonstige Verschiedenheit paralysierte, so ent-
sprangen nun innerhalb dieser Gemeinsamkeit und nach den
ihr eigenen Kategorieen neue Unterschiede zwischen Hoch und
Niedrig, welche ganz auſser Korrespondenz mit dem Hoch
und Niedrig innerhalb ihrer sonstigen Kreise stehen. Indem
die Höhen der Stellungen, welche eine und dieselbe Person
in verschiedenen Gruppen einnimmt, von einander völlig un-
abhängig sind, können so seltsame Kombinationen entstehen,
wie die, daſs in Ländern mit allgemeiner Wehrpflicht der
geistig und social höchststehende Mann sich einem Unter-
offizier unterzuordnen hat und daſs die Pariser Bettlergilde
einen gewählten „König“ besitzt, der ursprünglich nur ein
Bettler wie alle, und, so viel ich weiſs, auch weiter ein solcher
bleibend, mit wahrhaft fürstlichen Ehren und Bevorzugungen
ausgestattet ist — vielleicht die merkwürdigste und indivi-
dualisierendste Vereinigung von Niedrigkeit in einer und
Höhe in anderer socialen Stellung. Auch sind hier diejenigen
Komplikationen in Betracht zu ziehen, die durch die Kon-
kurrenz innerhalb einer Gruppe entstehen; der Kaufmann ist
einerseits mit anderen Kaufleuten zu einem Kreise verbunden,
der eine groſse Anzahl gemeinsamer Interessen hat: wirt-
schaftspolitische Gesetzgebung, sociales Ansehen des Kauf-
mannsstandes, Repräsentation desselben, Zusammenschluſs ge-
genüber dem Publikum zur Aufrechterhaltung bestimmter
Preise und vieles andere — geht die gesamte Handelswelt als

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[104/0118] X 1. Ihre Bestimmtheit wird nun eine um so gröſsere sein, wenn die bestimmenden Kreise mehr nebeneinander liegende, als konzentrische sind; d. h. allmählich sich verengende Kreise, wie Nation, sociale Stellung, Beruf, besondere Kategorie inner- halb dieses, werden der an ihnen teilhabenden Person keine so individuelle Stelle anweisen, weil der engste derselben ganz von selbst die Teilhaberschaft an den weiteren bedeutet, als wenn jemand auſser seiner Berufsstellung etwa noch einem wissenschaftlichen Vereine angehört, Aufsichtsrat einer Aktien- gesellschaft ist und ein städtisches Ehrenamt bekleidet; je weniger das Teilhaben an dem einen Kreise von selbst An- weisung giebt auf das Teilhaben an dem andern, desto be- stimmter wird die Person dadurch bezeichnet, daſs sie in einem Schnittpunkt beider steht. Ich will hier nur andeuten, wie die Möglichkeit der Individualisierung auch dadurch ins Unermeſsliche wächst, daſs dieselbe Person in den verschie- denen Kreisen, denen sie gleichzeitig angehört, ganz ver- schiedene relative Stellungen einnehmen kann. Denn jeder neue Zusammenschluſs unter gleichem Gesichtspunkt erzeugt sofort wieder in sich eine gewisse Ungleichheit, eine Differen- zierung zwischen Führenden und Geführten; wenn ein ein- heitliches Interesse, wie es etwa das erwähnte humanistische war, für hohe und niedere Personen ein gemeinsames Band war, das ihre sonstige Verschiedenheit paralysierte, so ent- sprangen nun innerhalb dieser Gemeinsamkeit und nach den ihr eigenen Kategorieen neue Unterschiede zwischen Hoch und Niedrig, welche ganz auſser Korrespondenz mit dem Hoch und Niedrig innerhalb ihrer sonstigen Kreise stehen. Indem die Höhen der Stellungen, welche eine und dieselbe Person in verschiedenen Gruppen einnimmt, von einander völlig un- abhängig sind, können so seltsame Kombinationen entstehen, wie die, daſs in Ländern mit allgemeiner Wehrpflicht der geistig und social höchststehende Mann sich einem Unter- offizier unterzuordnen hat und daſs die Pariser Bettlergilde einen gewählten „König“ besitzt, der ursprünglich nur ein Bettler wie alle, und, so viel ich weiſs, auch weiter ein solcher bleibend, mit wahrhaft fürstlichen Ehren und Bevorzugungen ausgestattet ist — vielleicht die merkwürdigste und indivi- dualisierendste Vereinigung von Niedrigkeit in einer und Höhe in anderer socialen Stellung. Auch sind hier diejenigen Komplikationen in Betracht zu ziehen, die durch die Kon- kurrenz innerhalb einer Gruppe entstehen; der Kaufmann ist einerseits mit anderen Kaufleuten zu einem Kreise verbunden, der eine groſse Anzahl gemeinsamer Interessen hat: wirt- schaftspolitische Gesetzgebung, sociales Ansehen des Kauf- mannsstandes, Repräsentation desselben, Zusammenschluſs ge- genüber dem Publikum zur Aufrechterhaltung bestimmter Preise und vieles andere — geht die gesamte Handelswelt als

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/118>, abgerufen am 23.11.2024.