Sievers, Johann August Carl: Briefe aus Sibirien. St. Petersburg, 1796.Sievers Briefe tigsten. Ein kirgisischer Wirth zeigt dadurch seine Hoch-achtung, wenn er Jemand beym Essen zu sich ruft und ihm eine Hand voll Speise ins Maul schiebt: Loffel und Gabeln kennen diese Leute nicht. Unser Fütterer, der übrigens ein wohlaussehender Mann und wohlgekleidet war, nahm dann zuweilen auch eine Hand voll zu sich. Denen außen vor der Jurte sitzenden Weibern wurde von allen Speisen hinausgeschickt; denn nach Landessitte dür- fen diese nicht mit den Männern zugleich in einer Gesell- schaft essen. Nur des Sarembets Frau mit einer al- ten Anverwandtin genossen das Glück in einem Winkel hinter dem alten Stammvater mitzuspeisen. Bey sol- chen Gastereyen ist übrigens Niemand ausgeschlossen, er sey arm oder reich, Sklave oder Herr. Nur der Bräu- tigam darf sich nicht sehen lassen. -- Als das große Ge- fäß ausgeleert war, wurde Wasser zum Händewaschen herumgetragen und dem Essen hiemit ein Ende gemacht; dann sagte einer von den Aeltesten ein langes Gebet her, wobey er sich, so wie alle Anwesende auch thaten, mit beyden Händen zuweilen über den Bart fuhr und alle ausriefen: Jsmila Rachma Rachüm. Während dem stillen Zuhören aber hielten alle in einiger Entfer- nung von der Brust beyde Hände empor, so daß sich die beyden Spitzen der längsten Finger berührten. Eben diese gottesdienstliche Handlung geschah auch vor dem Essen. Nach diesem wurden die Pfeifen wieder hervor- gelangt, geraucht, gesprochen, gespaßt und so giengen die Gäste mit vollen Bäuchen aus einander. Abends
Sievers Briefe tigſten. Ein kirgiſiſcher Wirth zeigt dadurch ſeine Hoch-achtung, wenn er Jemand beym Eſſen zu ſich ruft und ihm eine Hand voll Speiſe ins Maul ſchiebt: Loffel und Gabeln kennen dieſe Leute nicht. Unſer Fuͤtterer, der uͤbrigens ein wohlausſehender Mann und wohlgekleidet war, nahm dann zuweilen auch eine Hand voll zu ſich. Denen außen vor der Jurte ſitzenden Weibern wurde von allen Speiſen hinausgeſchickt; denn nach Landesſitte duͤr- fen dieſe nicht mit den Maͤnnern zugleich in einer Geſell- ſchaft eſſen. Nur des Sarembets Frau mit einer al- ten Anverwandtin genoſſen das Gluͤck in einem Winkel hinter dem alten Stammvater mitzuſpeiſen. Bey ſol- chen Gaſtereyen iſt uͤbrigens Niemand ausgeſchloſſen, er ſey arm oder reich, Sklave oder Herr. Nur der Braͤu- tigam darf ſich nicht ſehen laſſen. — Als das große Ge- faͤß ausgeleert war, wurde Waſſer zum Haͤndewaſchen herumgetragen und dem Eſſen hiemit ein Ende gemacht; dann ſagte einer von den Aelteſten ein langes Gebet her, wobey er ſich, ſo wie alle Anweſende auch thaten, mit beyden Haͤnden zuweilen uͤber den Bart fuhr und alle ausriefen: Jsmila Rachma Rachuͤm. Waͤhrend dem ſtillen Zuhoͤren aber hielten alle in einiger Entfer- nung von der Bruſt beyde Haͤnde empor, ſo daß ſich die beyden Spitzen der laͤngſten Finger beruͤhrten. Eben dieſe gottesdienſtliche Handlung geſchah auch vor dem Eſſen. Nach dieſem wurden die Pfeifen wieder hervor- gelangt, geraucht, geſprochen, geſpaßt und ſo giengen die Gaͤſte mit vollen Baͤuchen aus einander. Abends
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Sievers Briefe
tigſten. Ein kirgiſiſcher Wirth zeigt dadurch ſeine Hoch-
achtung, wenn er Jemand beym Eſſen zu ſich ruft und
ihm eine Hand voll Speiſe ins Maul ſchiebt: Loffel und
Gabeln kennen dieſe Leute nicht. Unſer Fuͤtterer, der
uͤbrigens ein wohlausſehender Mann und wohlgekleidet
war, nahm dann zuweilen auch eine Hand voll zu ſich.
Denen außen vor der Jurte ſitzenden Weibern wurde von
allen Speiſen hinausgeſchickt; denn nach Landesſitte duͤr-
fen dieſe nicht mit den Maͤnnern zugleich in einer Geſell-
ſchaft eſſen. Nur des Sarembets Frau mit einer al-
ten Anverwandtin genoſſen das Gluͤck in einem Winkel
hinter dem alten Stammvater mitzuſpeiſen. Bey ſol-
chen Gaſtereyen iſt uͤbrigens Niemand ausgeſchloſſen, er
ſey arm oder reich, Sklave oder Herr. Nur der Braͤu-
tigam darf ſich nicht ſehen laſſen. — Als das große Ge-
faͤß ausgeleert war, wurde Waſſer zum Haͤndewaſchen
herumgetragen und dem Eſſen hiemit ein Ende gemacht;
dann ſagte einer von den Aelteſten ein langes Gebet her,
wobey er ſich, ſo wie alle Anweſende auch thaten, mit
beyden Haͤnden zuweilen uͤber den Bart fuhr und alle
ausriefen: Jsmila Rachma Rachuͤm. Waͤhrend
dem ſtillen Zuhoͤren aber hielten alle in einiger Entfer-
nung von der Bruſt beyde Haͤnde empor, ſo daß ſich die
beyden Spitzen der laͤngſten Finger beruͤhrten. Eben
dieſe gottesdienſtliche Handlung geſchah auch vor dem
Eſſen. Nach dieſem wurden die Pfeifen wieder hervor-
gelangt, geraucht, geſprochen, geſpaßt und ſo giengen
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